Necroscope 9: WERWOLFSJAGD (German Edition)
es ihm unpassend schien, zumal er doch seine Frau und sein Kind finden wollte oder dies zumindest versuchte. Aber vielleicht war ja doch etwas daran.
Vor Harrys geistigem Auge flimmerten Initialen vorüber. Weder die von A. C. Doyle Jamieson noch von dessen Bruder R. L. Stevenson, sondern von jemand anderem. Von jemand, an den der Necroscope bis jetzt tunlichst nicht zu denken versucht hatte. Aber nun ... möglicherweise hatte er ja doch einen Freund unter den Lebenden. Oder zumindest jemanden, der ihm noch etwas schuldig war. Und vielleicht, nur vielleicht, steckte noch viel mehr dahinter. Zum einen passte das Timing: Seine Frau und sein Sohn waren genau zu dem Zeitpunkt verschwunden, als sie auftauchte. Und da dies zutraf, war es doch gut möglich, dass es noch eine weitere, wesentlich bedeutsamere, dunklere Verbindung gab.
Wahrscheinlich war das Letzte, was Harry jetzt brauchen konnte, ein Psychiater. Das Einzige, was er wirklich dringend nötig hatte, war wohl Ruhe. Er musste Abstand von all dem gewinnen und endlich aufhören, ständig darüber nachzudenken. Vielleicht brauchte er auch einfach nur Abwechslung. Hieß es denn nicht, Abwechslung wirke Wunder?
Jetzt etwas Hochprozentiges, und dann seinen Rausch ausschlafen! Dann hätte er wieder einen klaren Kopf. Gott, er brauchte etwas zu trinken! Oder verhielt es sich vielmehr so, dass sein Körper – der Körper des anderen – dies brauchte? Aber ... sagte man nicht, der Geist beherrsche den Körper? Nun ja, schon, es sei denn, der Körper hatte irgendwelche Angewohnheiten oder Bedürfnisse, die Macht über den Geist ausüben!
Mit einem Mal machte es »klick« im metaphysischen, Abwege gewohnten Geist des Necroscopen. In seinem Geist, gewiss, allerdings befand dieser sich im Körper eines anderen. Etwas zittrig – die schiere, auch wenn noch unbestätigte Erkenntnis brachte ihn ins Wanken – ging er zurück ins Haus, ans Telefon.
Darcy Clarke befand sich im E-Dezernat und hörte dem Necroscopen sofort an, wie aufgeregt dieser war.
»Bitte, Alec Kyle? Was er getan hat, wenn er unter Stress stand? In der Regel hat er es einfach durchgestanden, Harry. Wenn es einen Auftrag zu erledigen gab oder ein Problem zu lösen, dann arbeitete er bis zum Umfallen daran, so lange, bis er alles abgedeckt hatte. Und hinterher? Womit er sich entspannt hat?« Harry konnte sich gut vorstellen, wie Clarke gerade grinste. »Na ja, ich weiß nicht so recht, ob ich das sagen sollte? Ich meine, man soll nicht schlecht von den Toten reden, aber ...«
»... Hat er gern mal einen getrunken?«, brachte Harry es schließlich auf den Punkt; und Darcys Antwort erklärte alles.
»Ob Alec gern einen getrunken hat? Na klar doch! Wenn er unter Strom stand, war das für ihn die einzige Möglichkeit, wieder ’runterzukommen ... und dann trank er, jawohl! Normalerweise daheim, da konnte nicht viel passieren und er hatte es nicht weit zu seinem Bett. Ich erinnere mich, einmal, da lud er mich zu sich nach Hause ein und zu zweit gaben wir einer großen Flasche Jack Daniel’s den Rest. Ich habe bei ihm übernachtet, weil ich wusste, dass ich es nirgendwohin mehr schaffen würde. Und ich habe dafür bezahlt, drei volle Tage lang. Alec dagegen ging es bestens! Mann, der konnte vielleicht saufen – wie ein Loch!«
»Aber er war kein Alkoholiker, oder?« In der Stimme des Necroscopen schwang Besorgnis mit.
»Mein Gott, nein! Alle Jubeljahre einmal, mehr nicht. Aber wenn Alec trank, dann richtig!«
»Danke«, flüsterte Harry und legte den Hörer auf.
Nun wusste er Bescheid. Und ihm war auch klar, wie er wieder mit sich ins Reine kommen konnte; eben indem er sich anders verhielt als sonst. Er fühlte sich zu einer fremden Frau hingezogen, mit der er nicht verheiratet war? Reine Körperchemie, das war alles, und zwar diejenige Alec Kyles! Und der Drang, sich nach anhaltendem Stress einen hinter die Binde zu kippen? Wiederum nur Chemie! Der Körper des einstigen Hellsehers machte eben, was er wollte – oder vielmehr das, was er von früher gewohnt war. Und da stand Harry nun, fest entschlossen, mit seinem neuen Körper zurechtzukommen, ohne auch nur einmal darüber nachzudenken, dass dieser Körper sich auch erst an ihn gewöhnen musste!
Vielleicht war es ja gar keine so schlechte Idee, einmal ordentlich einen draufzumachen. Möglicherweise sah er danach klarer und wäre dann in der Lage, Körper und Geist zusammenzubringen, um sich etwas einfallen zu lassen. Und wo er gerade daran dachte,
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