Neferets Fluch ( House of Night Novelle )
legte sich in Falten. »Dann warst du nicht krank?«
Ich schnaubte. »Nicht körperlich. Nur krank an Herz und Seele. Es ist, als erwarte Vater, dass ich in allen Dingen Mutters Platz einnehme.«
Camille fächelte sich mit ihren zarten Fingern Luft zu. »Dann bin ich erleichtert! Ich dachte, auch du lägst mit Lungenentzündung darnieder. Du weißt, dass Evelyn letzte Woche daran gestorben ist?«
Schrecken durchfuhr mich. »Nein, das wusste ich nicht. Niemand hat es mir gesagt. Wie schrecklich … wie grauenhaft.«
»Hab keine Angst. Du siehst so stark und schön aus wie immer.«
Ich schüttelte den Kopf. »Stark und schön? Ich fühle mich, als sei ich tausend Jahre alt und die ganze Welt sei an mir vorübergezogen. Ich vermisse dich so und mein altes Leben auch!«
»Mutter sagt, was du tust, sei wichtiger als die Mädchenspiele, die wir zu spielen pflegten. Da hat sie gewiss recht – die Herrin eines großen Hauses zu sein ist sehr wichtig.«
Ich fühlte mich, als müsse ich zerspringen. »Aber ich bin nicht die Herrin unseres Hauses! Viel eher bin ich die niederste Dienerin! Man erlaubt mir nicht das kleinste bisschen Freiheit.«
Camille versuchte, meiner veränderten Lage etwas Gutes abzugewinnen. »Es ist jetzt Mitte April. In zwei Wochen sind es sechs Monate, dass deine Mutter starb. Dann ist deine Trauerzeit um, und du darfst wieder am gesellschaftlichen Leben teilnehmen.«
»Ich weiß nicht, ob ich es auch nur noch diese zwei Wochen lang ertragen kann, dass alles so langweilig und trübe ist.« Bei Camilles verwundertem Blick biss ich mir auf die Lippe und erklärte rasch: »Die Dame des Hauses Wheiler zu sein ist Arbeit – eine schrecklich ernste Arbeit. Alles muss perfekt sein, sprich: ganz genau so, wie Vater es will – und das heißt, genau so, wie Mutter es tat. Ich hatte keine Ahnung, wie hart und düster es ist, eine Ehefrau zu sein.« Ich holte tief Luft. »Sie hat noch versucht, es mir zu sagen. Damals, am Tag, als sie starb. Deshalb war ich während der Geburt mit im Zimmer. Mutter sagte, ich solle erfahren, was es heißt, Ehefrau und Mutter zu sein, um nicht wie sie blind in die Sache hineinzustolpern. Also habe ich zugesehen. Camille, ich habe mitangesehen, wie sie in einer Woge von Blut starb, ohne dass ihr ein liebender Ehemann die Hand hielt und mit ihr bangte. Einsamkeit und Tod, das ist es, was eine Ehefrau erwartet. Wir dürfen niemals heiraten, Camille!«
Während ich mir vom Herzen redete, was ich schon so lange mit jemandem hatte teilen wollen, hatte Camille immer ungestümer ihren Tee umgerührt. Bei meinem Ausruf ließ sie den Löffel fallen, und ich sah, wie ihr Blick nervös zur geschlossenen Tür des Salons und wieder zu mir flog. »Emily, ich glaube, es ist nicht gut, wenn du zu viel über den Tod deiner Mutter nachdenkst. Das kann nicht gesund sein.«
Nun, da ich unser Gespräch niederschreibe, begreife ich, dass ich mehr zu enthüllen begonnen hatte, als Camille ertragen konnte, und dass ich das Thema besser beendet und meine Gedanken einzig in mir und diesem stummen, urteilslosen Büchlein bewahrt hätte. Doch zu jener Stunde war alles, was ich mir wünschte, jemand, mit dem ich reden, mit dem ich meine wachsenden Ängste und Enttäuschungen teilen konnte. Daher sprach ich weiter. »Ich muss über den Tod meiner Mutter nachdenken. Sie selbst wollte es so. Sie bestand darauf, dass ich dabei sein sollte. Weil sie wollte, dass ich die Wahrheit erfuhr. Ich glaube, vielleicht ahnte Mutter, dass ihr Tod bevorstand, und wollte mich warnen – mir zeigen, dass ich einen anderen Weg wählen solle, als Ehefrau und Mutter zu werden.«
»Einen anderen Weg? Was in aller Welt meinst du? Die Kirche?«
Hierauf hatten Camille und ich gemeinsam die Nase gerümpft – in diesem Punkt sind wir vollkommen einer Meinung.
»Bestimmt nicht! Du solltest die alten Betschwestern sehen, die in der GFWC mitarbeiten. Sie sind so verhärmt und jämmerlich, wie halbverhungerte Spatzen, die die Krümel vom Tisch des Lebens aufpicken. Nein. Ich habe an diese reizenden kleinen Modegeschäfte gedacht, die um den Loop herum eröffnet haben. Wenn ich das Haus Wheiler führen kann, kann ich sicherlich auch einen einfachen Putzmacherladen führen.«
»Das würde dein Vater nie erlauben!«
»Wenn ich mich auf eigene Füße stellen würde, bräuchte ich seine Erlaubnis nicht«, sagte ich fest.
»Emily«, sagte Camille besorgt und etwas ängstlich. »Du kannst doch nicht daran denken, von zu
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