Neferets Fluch ( House of Night Novelle )
während ich dies schreibe.
Ich muss ihnen Einhalt gebieten! Ich muss säuberlich alles notieren, was geschehen ist. Nur wenn meine Niederschrift lesbar ist, wird sie mir die Ereignisse der letzten Tage später einmal ins Gedächtnis zurückrufen können, wenn mein Geist ruhiger, kühler geworden ist, und ich werde jeden Augenblick der Überraschung und des Staunens noch einmal auskosten dürfen, aber nicht etwa weil ich glaube, ich könnte verrückt sein! Nein, im Gegenteil! Es gibt einen gänzlich anderen, freudigeren Grund, weshalb ich meine Erinnerungen aufbewahren möchte. Ich habe nämlich einen Weg in eine andere Zukunft gefunden! Oder besser gesagt, er hat mich gefunden! Ich weiß genau, dass ich eines Tages den Wunsch verspüren werde, mich noch einmal in das Netz der Ereignisse fallen zu lassen, die mich auffingen und auf einer Woge des Staunens, der Freude und – ja, ich will es mir eingestehen – vielleicht gar der Liebe hinwegtrugen! Eines Tages, wenn meine eigenen Kinder erwachsen sind – o ja, vielleicht werde ich in der Tat den Weg der Ehefrau und Mutter einschlagen –, werde ich dies wieder lesen und ihnen die Geschichte meiner Romanze mit ihrem geliebten Vater erzählen können und wie er mich vor einem Leben in Knechtschaft und Furcht rettete.
Mein Herz und mein Geist sind erfüllt von Arthur Simpton! So erfüllt, dass nicht einmal der Abscheu gegen meinen ekelhaften Vater meine Freude trüben kann, denn nun kenne ich ja den Ausweg aus der Gefangenschaft. Doch ich eile voraus! Ich muss zurückblicken und erläutern, wie die einzelnen Teile sich zu jenem herrlichen Bild fügten, das heute Nacht vollendet wurde! O frohe, wunderbare Nacht!
An jenem Nachmittag, als ich von Camille zurückkehrte, erwartete Vater mich in Mutters Salon. »Auf ein Wort, Emily!«, rief er mürrisch, als ich die Treppe in mein Zimmer hinaufeilen wollte.
Ich erstarrte, und mir wurde ein wenig übel, doch ich lief nicht davon. Ich trat in den Salon und blieb kerzengerade stehen, die Hände an den Seiten geballt, mit unbewegter, ruhiger Miene. Eines wusste ich mit überscharfer Klarheit: dass Vater niemals spüren durfte, wie sehr ich ihn fürchtete und verabscheute. Er wünschte sich eine gefügige Tochter. Neuerdings war ich entschlossen, ihn glauben zu machen, er besäße, was er sich wünschte. Das sollte mein erster Schritt in Richtung Freiheit sein. Vater wollte nicht, dass ich mich mit meinen alten Freundinnen traf, also würde ich klein beigeben und abwarten. In dem Maße, wie er glaubte, ich beugte mich jedem seiner Befehle, würde seine Wachsamkeit mir gegenüber nachlassen. Dann würde ich meine Flucht planen und ausführen.
»Vater, ich werde mich nicht mehr mit Camille treffen«, sagte ich in Mutters weichem, zartem Ton. »Nicht, wenn es dir nicht gefällt.«
Mit einer abrupten Geste wischte er meine Worte beiseite. »Das Mädchen ist nicht von Belang. Wenn du darauf bestehst, kannst du sie hier empfangen, wie deine Mutter hier Besuch empfing. Wir haben viel Wichtigeres zu besprechen.« Er zeigte auf den Diwan. »Setz dich!« Dann brüllte er nach Tee und Brandy.
»Brandy zu dieser Stunde?« Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, da bereute ich sie schon. Ich war so dumm! Ich muss lernen, meine Worte, meinen Gesichtsausdruck, ja mein ganzes Verhalten unter absoluter Kontrolle zu haben.
Er sprach erst, als das Mädchen den Raum verlassen hatte. »Du stellst mich in Frage?« Ohne dass er die Stimme erhob, ließ der gefährlich ruhige Zorn darin mich erschauern.
»Nein! Nur die Tageszeit. Es ist erst drei Uhr. Ich glaubte, Brandy sei ein Getränk für den Abend. Irre ich mich, Vater?«
Seine Schultern entspannten sich, und schmunzelnd nahm er einen Schluck aus dem bauchigen Kristallglas. »Ah, ich vergesse, wie jung du bist und wie viel du noch zu lernen hast. Brandy ist ein Getränk für Männer, Emily, und wahre Männer trinken ihn, wann es ihnen beliebt. Du solltest allmählich begreifen, dass Frauen sich notwendigerweise in den Bahnen der gesellschaftlichen Regeln bewegen müssen. Das liegt daran, dass euer Geschlecht das schwächere ist und des Schutzes der Tradition und derer bedarf, die klüger und welterfahrener sind. Was mich angeht, bin ich ein Mann, und als solcher werde ich niemals Sklave gesellschaftlicher Konventionen sein.« Er nahm noch einen tiefen Schluck aus dem Glas und schenkte sich nach. »Das führt mich auch schon zu unserem Thema. Die Konvention verlangt, dass wir
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