Neferets Fluch ( House of Night Novelle )
gewesen war, die Wahrheit zu sagen.
»Was in aller Welt meinst du damit, Emily?«
»Nichts«, versicherte ich. »Ich bin müde, das ist alles. Ich habe mich versprochen. Und ich sollte unsere Zeit miteinander nicht vergeuden, indem ich nur von mir rede. Ich will hören, wie es dir ergangen ist! Sag doch, macht Arthur Simpton dir nun endlich offiziell den Hof?«
Wie ich vermutet hatte, fegte die Erwähnung von Arthur Simpton alles andere aus Camilles Gedanken. Dieser hatte zwar noch nicht mit ihrem Vater gesprochen, doch war sie auf der vormittäglichen Seepromenadenrundfahrt des Hermes Club schon einige Male Seite an Seite mit ihm gefahren. Am Vortag hatte er ihr sogar anvertraut, wie neugierig er auf das gigantische Riesenrad sei, das für jedermann sichtbar auf der Hauptachse des Ausstellungsgeländes, dem Midway Plaisance, errichtet wurde.
Ich wollte Camille sagen, wie sehr ich mich für sie freute und dass ich ihr nur das Beste mit Arthur wünschte, doch mein Mund wollte die Worte nicht formen. Nicht, dass ich selbstsüchtig oder neidisch gewesen wäre. Es war einfach so, dass ich keinen Augenblick die unabwendbare Tatsache vergessen konnte, dass meine Freundin, sollte Arthur um sie werben, sich eines Tages in nicht allzu ferner Zukunft als seine Sklavin wiederfinden würde, deren Schicksal es sein würde, in einer Woge von Blut zu sterben …
»Bitte um Verzeihung, Miss Elcott. Mr. Wheilers Diener ist da, um Miss Wheiler abzuholen.« Als die Stimme von Camilles Kammermädchen zu uns drang, wurde mir bewusst, dass ich schon einige Minuten lang nicht mehr zugehört hatte, was Camille sagte.
Schnell stand ich auf. »Danke. Ich sollte wirklich aufbrechen.«
»Miss Wheiler, Ihr Diener bat mich, Ihnen dies zu überbringen, damit Sie es an Miss Elcott weitergeben.«
»Eine Nachricht? Für mich? Wie aufregend!«, sagte Camille. Ich hatte ein schreckliches Vorgefühl, als ich die Notiz in ihre erwartungsvoll ausgestreckten Finger weiterreichte. Sie öffnete sie hastig, las sie, blinzelte zweimal, und dann verwandelte ein strahlendes Lächeln ihr recht hübsches Gesicht in ein umwerfend schönes. »O, Emily, es ist von deinem Vater. Statt hierher eilen zu müssen, wann immer du gerade Zeit findest, lädt er mich ein, dich jederzeit bei dir zu Hause im großen Salon zu besuchen.« Glücklich drückte sie meine Hände. »So musst du das Haus gar nicht mehr verlassen. Schau, alles ist genau wie bei einer großen Dame! Ich werde gleich nächste Woche kommen. Vielleicht wird mich Elizabeth Ryerson begleiten.«
»Das wäre nett«, sagte ich leblos, ehe ich mich mit Carson zu der schwarzen Kutsche begab, die draußen wartete. Als er den Schlag hinter mir schloss, war mir, als bekäme ich keine Luft mehr. Die ganze Fahrt zurück zu unserem Haus musste ich nach Luft ringen wie ein Fisch auf dem Trockenen.
Nun, beim Schreiben dieses meines ersten Tagebucheintrags seit Monaten, schärfe ich mir ein, dass ich niemals vergessen darf, wie Camille reagierte, als ich mich ihr anvertrauen wollte: mit Entsetzen und Verwirrung, und dann kehrte sie in unsere kindische Traumwelt zurück.
Falls ich wahnsinnig sein sollte, muss ich meine Gedanken für mich behalten, da ich fürchte, dass niemand sie verstehen kann.
Falls ich nicht wahnsinnig bin, sondern tatsächlich in dem Maße eine Gefangene, wie ich es zu sein glaube, muss ich meine Gedanken für mich behalten, da ich fürchte, dass niemand sie verstehen wird.
In beiden Szenarien gibt es eine Konstante: Ich kann einzig und allein mir selbst und meinem Einfallsreichtum vertrauen, um einen Ausweg zu finden – vorausgesetzt, ein solcher existiert überhaupt.
Nein! Ich werde nicht in Melancholie verfallen. Ich lebe in einer modernen Welt, in der es jungen Frauen möglich ist, von zu Hause wegzugehen und sich ein anderes Leben aufzubauen – eine andere Zukunft zu wählen. Ich muss nur klug und listig sein. Ich werde einen Weg finden, mein eigenes Leben zu führen! Jawohl!
Und wieder warte ich, während ich meine innersten Gedanken diesem Büchlein anvertraue, auf den Aufgang des Mondes, mit dem sich die schwärzeste Tiefe der Nacht ankündigt, damit ich meine einzig wahre Flucht antreten kann – in die Schatten des Gartens und die Geborgenheit, die ich darin finde. Die Nacht ist zu meiner Zuflucht, meinem Schild, meinem Trost geworden. Ich hoffe nur, sie wird nicht auch zu meinem Leichentuch werden …
19. April 1893
Emily Wheilers Aufzeichnungen
Meine Hände zittern,
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