Neferets Fluch ( House of Night Novelle )
»Gute Nacht«, wiederholte ich.
»Du weißt, dass du die Augen deiner Mutter hast.«
Mein Magen zog sich zusammen. »Ja, ich weiß. Gute Nacht, Vater«, sagte ich zum dritten Mal.
Endlich verließ er ohne ein weiteres Wort den Raum.
Ich ging in mein Schlafzimmer und setzte mich in die Fensternische, meine sauber gefalteten Bloomers auf dem Schoß. Ich sah zu, wie der Mond aufging und seine Reise über den Himmel begann. Als die Nacht am dunkelsten war, schlich ich mich leise und vorsichtig die Treppe hinunter und zur Hintertür hinaus, von der aus ein Weg in unseren kunstvoll angelegten Garten führt. Als ich an dem großen Brunnen mit dem Stier vorüberkam, stellte ich mir vor, ich sei nur einer der vielen Schatten, die ihn umgaben – nichts Lebendiges … nicht ein Mädchen, das entdeckt werden könnte.
Ich ging bis zum Geräteschuppen und fand dort einen Spaten. Damit begab ich mich hinter den Schuppen, ganz an den Rand unseres Anwesens, wo der Haufen verrottender Pflanzenteile liegt, den die Gärtner als Dünger benutzten. Ohne mich um den Geruch zu kümmern, hob ich ein tiefes Loch aus, bis ich mir sicher war, dass sie gut versteckt sein würden, und begrub meine Bloomers.
Danach stellte ich den Spaten zurück, wusch mir in der Regentonne die Hände und ging zu meiner steinernen Bank unter der Weide. Dort saß ich, geborgen hinter ihrem dunklen Vorhang, bis mein Magen sich wieder entkrampfte und ich mir sicher war, dass ich mich nicht würde erbrechen müssen. Und dann blieb ich noch ein kleines Weilchen länger und fand Trost in den Schatten und der Dunkelheit.
Obschon nicht mit dem Fahrrad – nie wieder mit dem Fahrrad –, so besuchte ich Camille noch dreimal. Die kurze Entfernung zwischen unserem Haus und dem der Elcotts war gut zu Fuß zu bewältigen. Zwei der drei Male gelang es uns beiden, in Richtung See zu spazieren, wo wir einen Blick auf die magische Welt aus Marschland und Sand erhaschen wollten, aus der die ganze Stadt ihren Geist schöpft.
Beide Male eilte Mrs. Elcotts Mädchen uns nach und richtete mir aus, ich werde dringend zu Hause gebraucht. Zu Hause erwartete mich dann aber nichts, was dringlich gewesen wäre. Und beim Dinner trank Vater jedes Mal über die Maßen viel, und sein heißer Blick ruhte immer öfter auf mir.
Wie man sieht, war es Wahnsinn, ein drittes Mal zu Camille zu gehen. Ist es nicht Wahnsinn, wenn man etwas wieder und wieder tut und sich erhofft, es werde einmal anders ausgehen? Macht mich das nicht zur Wahnsinnigen?
Doch ich fühle mich nicht wahnsinnig. Ich fühle mich ganz bei mir. Mein Geist ist klar. Meine Gedanken gehören mir. Noch immer vermisse ich Mutter, aber die Betäubung der Trauer ist abgeebbt. An ihrer statt erfüllt mich ein lauerndes, unbestimmtes Grauen. Um gegen dieses Grauen anzukämpfen, ist in mir eine Sehnsucht nach der Normalität meines alten Lebens gewachsen, die in Worte zu fassen meine Fähigkeiten übersteigt.
Leide ich womöglich an Hysterie?
Doch mein Atem ist ruhig, ich falle nicht in Ohnmacht oder breche in herzzerreißendes Schluchzen aus. Ist vielleicht die Kühle meines Temperaments ein weiterer Beweis dafür, dass ich verrückt bin? Oder kann es sein, dass ich nur durchleide, was jedes Mädchen durchleiden würde, dessen Mutter zur Unzeit starb? Ist Vaters heißer Blick nur ein Symptom seiner Trauer über den Verlust der geliebten Frau? Denn, ja, ich habe die Augen meiner Mutter.
Wie auch immer, ich konnte Camille und dem Leben, das ich so vermisste, nicht ein für alle Mal fernbleiben. Heute Nachmittag besuchte ich sie ein weiteres Mal. Wir beschlossen, das Haus der Elcotts nicht zu verlassen. Ohne dass wir es aussprechen mussten, wussten wir beide, dass sonst der Besuch wieder damit geendet hätte, dass Carson gekommen wäre, um mich zurückzubegleiten.
Camille umarmte mich und ließ Tee in dem alten Kinderzimmer servieren, das zu einem mit rosa Tapeten verkleideten Salon für die Elcott-Töchter umgestaltet worden war. Während wir allein waren, nahm Camille meine Hand. »Emily, wie bin ich froh, dich zu sehen! Ich habe mir Sorgen gemacht. Als ich dich letzten Mittwoch besuchen wollte, sagte mir der Diener deines Vaters, du seiest nicht verfügbar. Genau das sagte er auch am Freitag zuvor!«
»Ich war wirklich nicht verfügbar.« Mit gerümpfter Nase betonte ich das Wort. »An beiden Tagen war ich unten in der erbärmlichen Markthalle und habe die ärmsten Schlucker Chicagos bedient.«
Camilles glatte Stirn
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