Nehmt Herrin diesen Kranz - Schacht, A: Nehmt Herrin diesen Kranz
auf der Gasse, aber er konnte sich nicht entschließen, sofort zum Hafen hinunterzueilen. Einen kleinen Moment verweilte er beim Anblick des Hauses. Bis zum ersten Stock war es in Stein gebaut, darüber erhob sich weiß getünchtes Fachwerk und ein hohes, von grauen Schieferleyen gedecktes Dach. Die runden Butzenscheiben der Fenster glitzerten im Sonnenlicht, eine Rauchfahne schwebte über dem Schornstein. Es war kein großartiges Haus. Das seine, vollständig aus grauem, kostbarem Granit gemauert, die Fenster hoch und mit Maßwerk verziert, mit zwei Türmen und Erkern versehen, würde der Baumeisterin in Lady Almut gefallen. Seine Kühle sie aber sicher auch abstoßen. Doch dieses Haus hier strahlte das Leben aus, das dem seinen so erbärmlich fehlte. Hier waren Lachen und Weinen, Fröhlichkeit und Herzeleid, Übermut und Mütterlichkeit zu Hause, hier schliefen Hund und Katze bei ihrer Herrin im Bett, hier roch es nach frischem Brot und süßen Kräutern, es erklangen Lieder, kleine Verse, wilde Geschichten. Hier wurden Geschäfte gemacht und Wein angebaut, Zankereien ausgefochten und sich wieder versöhnt, Wunden versorgt und Trost gespendet, Garstigkeiten bestraft und Freundlichkeit belohnt.
Ja, in dieses Haus würde er gerne heimkehren.
41. Kapitel
J ohn war mit Tilo seit einer Woche fort, die letzten Händler, die die Messe besucht hatten, abgereist, und das Leben ging seinen gemächlichen Gang. Das Hauswesen war ebenfalls ruhig geworden, sah man von den kriegerischen Ausfällen zwischen Herold, dem schwarzen Hahn, und dem Gänserich ab. Alyss vermisste den ruhigen Tilo ein wenig; er hatte sich in seiner stillen, gründlichen Art im Kontor sehr nützlich gemacht. Hedwigis vermisste sie nicht so sehr. Leocadie hatte inzwischen ein wenig Haltung zurückgewonnen, und das Gebetbuch wurde nicht mehr ganz so häufig mit Tränen benetzt.
Ihrem Vater ging es wieder recht gut, aber der Schrecken über seinen Herzanfall steckte ihr und Marian noch in den Gliedern. Immerhin hatte sein Einfluss dazu geführt, dass Magister Jakob mit der Brautschatzfreiung Fortschritte gemacht hatte. Es gab wohl noch einige Stimmen im Rat, die über die Dreistigkeit von Weibern murrten, die es wagten, gegen die gottgewollte Munt der Männer über sie aufzubegehren. Aber die mochten auf die eine oder andere Weise noch bekehrt werden.
An diesem Nachmittag wollte Frau Greta vorbeikommen, und sie traf dann auch mit ihrem Sohn an der Hand ein und legte Alyss einen Packen sehr schöner Pelze auf den Tisch. Sie hatte sich inzwischen auch wieder beruhigt und, wie sie berichtete, bereit erklärt, Kilian nach Weihnachten der Obhut eines gestrengen Lehrers zu überlassen.
Frieder und Lauryn erklärten sich bereit, auf den Jungen aufzupassen, während Alyss und Frau Greta im Saal einen Schwatz hielten.
Als die Glocken die Non kündeten, fand Alyss jedoch, dass der Höflichkeit Genüge getan war, und ihre Besucherin begann, sich umständlich zu verabschieden.
Als sie und Kilian endlich gegangen waren, hüllte sie sich in ihren Umhang, um sich im Weingarten das Geplapper aus den Ohren pusten zu lassen. Doch als sie zu dem Verschlag trat, den der Falke bewohnte, stellte sie zu ihrem Entsetzen fest, dass Klein Kilian seinen letzten Streich ausgeführt hatte. Selbst Lauryn und Frieder hatten nicht bemerkt, dass er die Tür geöffnet und dem Vogel die Fußfesseln gelöst hatte.
Jerkin war fort.
Alyss griff nach Federspiel und Pfeife, um ihn wieder einzufangen. Sie vermeinte ihn hoch oben unter den grauen Wolken kreisen zu sehen. Doch soviel sie auch den gefiederten Balg an seiner Leine kreisen ließ, soviel sie seinen Namen rief und das Pfeifchen ertönen ließ, der Vogel kam nicht zurück.
»Schwesterlieb, was machst du für ein Getöse?«, fragte Marian, der durch die abgedeckten Rebreihen auf sie zukam.
»Kilians Werk! Er hat dem Falken die Freiheit geschenkt.«
»Und nun kehrt er nicht mehr zurück?«
Alyss sah zum Himmel hoch. Der ferne Punkt, den sie für Jerkin gehalten hatte, war verschwunden. Langsam wickelte sie die Schnur des Federspiels auf.
Marian legte ihr den Arm um die Schultern und rezitierte
leise den Herrn Dietmar von Eist, dessen Lied er in dem Buch der Minnedichter gefunden hatte:
»›Es stund eine Frau alleine
Und schaute über die Heide.
Und schaut nach ihrem Liebsten
So sah einen Falken sie fliegen
›Wie wohl, du Falke, es dir ist,
Du fliegst wohin es dir beliebt.‹«
»Ja, das tut er wohl, mein Falke«,
Weitere Kostenlose Bücher