Neid: Thriller (Opcop-Gruppe) (German Edition)
beginnt von vorn. Nur liegt sie diesmal in einer Gebärmutter. Sie hört einen beständigen Herzschlag, den Herzschlag ihrer Mutter. Sie hört es rumpeln im Bauch. Es ist genauso dunkel wie zuvor – aber vielleicht ist ihr Sehvermögen auch noch nicht entwickelt. Vielleicht hat sie noch gar keine Augen. Flüssigkeit fließt durch sie hindurch. Ihr Mund ist geöffnet, sie atmet Flüssigkeit. Aber dann drängt sich ein anderer Laut auf, es klingt wie ein Schnitt, als würde jemand vorsichtig ein Stück Stoff zerschneiden. Dann tut sich eine jähe Öffnung auf, Licht, grelles Licht dringt herein, das erste Licht, das ein Säugling zu sehen bekommt. Jemand hat sich in den Bauch ihrer Mutter geschnitten. Sie hört einen kräftigen Klaps und schießt aus der weit aufgerissenen Öffnung heraus.
Und wieder sitzt sie senkrecht im Bett. Und schüttelt den Kopf. Das hier ist doch grotesk. Als auch jetzt wieder eine Spur von Rationalität in ihr Gehirn zurückgekehrt ist, erinnert sie sich daran, dass ihre Mutter sie – im Krankenhaus von Stralsund – mit einem Kaiserschnitt zur Welt gebracht hat. Viel mehr hatte ihre Mutter über die Geburt nicht erzählt, aber sie weiß noch genau, wie ihr Vater erblasste, als er daran erinnert wurde.
Ich darf auf keinen Fall wieder einschlafen, denkt sie und tut es sofort.
Wieder tiefe Dunkelheit, durch die kleine Bläschen blubbern. Meer. Vollkommene Dunkelheit. Sie bekommt keine Luft. Sie taumelt umher, kann oben nicht von unten unterscheiden. Sie spürt die Panik in sich aufsteigen, als der Druck auf das Trommelfell zunimmt. Blasen, erwacht ein Gedanke in ihr, Blasen steigen nach oben. Dass alles immer der Ratio verpflichtet ist, ist ein anderer Gedanke. Während sie ihren taumelnden Körper unter Kontrolle bekommt, verschwinden die Bläschen. Jetzt kann sie ihnen nicht mehr folgen. Sie spürt, wie ihr Körper vor Panik zur Seite kippt. Aus ihrem Mund entweicht etwas Luft, ein stummer Schrei in Form von Bläschen, und diese Luftbläschen gleiten an ihren Wangen vorbei zu ihrem Nacken. Da begreift sie, dass sie mit dem Gesicht nach unten liegt. Nach unten in die Tiefe. Sie dreht sich zur Seite, lässt erneut etwas Luft entweichen, aber keinen Schrei. Wieder die Ratio. Zum Glück. Den Bläschen folgend, meint sie einen Schimmer zu sehen. Sie nimmt ihre ganze Kraft zusammen und schiebt sich mit ein paar kräftigen Schwimmzügen nach oben. Als sie die Wasseroberfläche durchbricht, sieht sie Dieter auf dem Steg stehen, den fiesen Dieter aus der Vierten, und als er sie wieder unter Wasser drückt, geschieht das mit einem lauten Klatschen.
Und das weckt sie endgültig auf. Erneut sitzt sie kerzengerade im Bett. Es dauerte eine Weile, ehe sie normal atmen kann. Noch bevor sie richtig wach geworden ist, springt sie aus dem Bett, sie will kein weiteres Mal zurück in die Dunkelheit. Aber das Schlafzimmer ist auch dunkel, obwohl es draußen Hochsommer ist. Sie zieht die Rollos hoch, und blendendes Licht schlägt ihr entgegen. Wie schneeblind stolpert sie ins Badezimmer.
Tanzende Flecken dominieren ihr Spiegelbild. Nach einer Weile erst sieht sie ihr Gesicht hinter diesem sonderbaren Tanz. Obwohl sie sich nicht wirklich erkennt. Sie muss ihren Namen laut sagen: »Jutta Beyer.«
Aber sie spürt, wie sie geradezu physisch aufgefüllt wird. Vernunft tropft in ihren Körper wie in einen Kolben im Chemielabor. Sie legt den Kopf in den Nacken und denkt an ihre eigenen Worte vom Vortag: »Mir ist bewusst, dass ich diese klaustrophobischen Stunden noch nicht verarbeitet habe, und es ist mehr als wahrscheinlich, dass sie mich über kurz oder lang in meinen Träumen heimsuchen werden.«
Dass es allerdings so schlimm werden würde, hatte sie nicht erwartet. Nachdem der Kolben wieder bis zu seinem gewöhnlichen maximalen Niveau gefüllt war, hätte sie sich eigentlich befreit fühlen müssen, so wie man sich nach einer Weile von seinen Albträumen losreißt. Aber so war es nicht, und doch hatte das Gefühl, das zurückblieb, nichts mit Angst zu tun. Es war etwas anderes. Jutta Beyer duschte, zog sich an, frühstückte, las die Zeitung, fütterte ihren nach wie vor namenlosen Kater, zog sich Jacke und Schuhe an und eilte aus dem Haus. Aber die ganze Zeit über spürte sie, dass etwas aus den Träumen an ihr haften geblieben war.
Und dabei ging es nicht um Dieter, obwohl die Überraschung groß gewesen war, den Quälgeist ihrer Kindheit nach fünfundzwanzig Jahren wiederzusehen. Es war auch nicht
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