Neid: Thriller (Opcop-Gruppe) (German Edition)
nicht mehr so gut. Die Leute lernten Fremdsprachen heute über das Internet, da gab es einfachere, weniger anspruchsvolle Kurse. Und Gunnar hatte auch nicht zur Haushaltskasse beitragen können, seit sie nach Chios gezogen waren, und außerdem hatte er seine restlichen Ersparnisse in den Bau des Schuppens und in seine Sportausrüstung gesteckt. Er hatte sein Manuskript einigen schwedischen Verlagen geschickt, aber ein Vertragsabschluss war noch nicht zustande gekommen. Sie steckten in einer kleinen Finanzkrise.
Aber in ihrem Paradies war das gleichgültig. An diesem Strand gab es nur sie beide, sonst nichts. Ihre Blicke trafen sich, und er senkte den Kopf und sah an sich herunter, über den immer straffer werdenden Bauch und noch ein Stück weiter.
In diesem Augenblick klingelte sein Telefon. Es hatte bisher noch kein einziges Mal im Paradies geklingelt. Noch nie. Ludmilla war überrascht, dass es hier überhaupt Empfang hatte.
Sie sahen einander an. Er blinzelte irritiert und sah auf den wunderschönen Körper seiner frisch angetrauten Frau. Dann bückte er sich und holte das Handy aus der Tasche. Es schrie förmlich, Ludmilla hatte fast den Eindruck, dass es sich in seinen Händen wand.
»Geh nicht ran«, bat sie.
»Ich weiß nicht«, sagte Gunnar. »Die Nummer ist unterdrückt. Es könnten Tommy oder Tanja sein.«
»Deine Kinder haben doch keine unterdrückten Nummern.«
»Ich gehe trotzdem ran.«
Und das tat er.
»Gunnar Nyberg.«
»Hallo, Gunnar. Hier ist Paul.«
»Hallo Paul. Du, ich bin gerade ein bisschen ...«
»Beschäftigt? So beschäftigt, dass du keine Zeit für Glückwünsche hast?«
»Du sprichst in Rätseln.«
»Ich habe gerade im Newsletter der EU gelesen, dass dir ein Stipendium für dein Romanprojekt ›Nostos‹ bewilligt worden ist. Ich finde zwar persönlich, dass du den Titel ändern solltest, aber das ist ja eine andere Sache.«
»Du machst Witze.«
»Die fanden deine Projektbeschreibung interessant.«
»Ich habe keine Projektbeschreibung verfasst.«
»Das habe ich für dich getan.«
»Aber du hast mein Buch doch gar nicht gelesen.«
»So funktioniert die EU. Nimm das Geld und lächle freundlich.«
»Ähm, gut, danke. Wie viel ist es denn?«
»Fünftausend Euro.«
»Das ist ja ein Vermögen in diesen Zeiten, vor allem hier in Griechenland. Wahnsinn! Danke.«
»Keine Dankbarkeit, Gunnar. Es könnte sogar noch etwas mehr werden. Ich würde dich nämlich gerne für eine Sache gewinnen.«
Gunnar Nyberg stutzte und räusperte sich. Plötzlich fragte er sich, worauf dieses Gespräch hinauslaufen würde. Ihn befiel beschämt die Erkenntnis, dass er mit Paul weitersprechen müsste, ohne dass Ludmilla zuhören konnte. Denn eines war sicher: Er vermisste die Polizeiarbeit. Und darauf schien Pauls Anruf hinauszulaufen, es roch förmlich danach, nach einem dreckigen kleinen Job als Ermittler.
Aber war er dazu überhaupt noch in der Lage? Er war schon lange nicht mehr so durchtrainiert gewesen wie jetzt, aber er war auch älter geworden, nicht mehr so reaktionsschnell bei Gefahr. Er lebte seit fünf Jahren in diesem Paradies. Seit einem halben Jahrzehnt. Hatte alle polizeilichen Instinkte heruntergefahren – und das in einer Welt, in der sich alles extrem verschärft hatte. Und Gunnar Nyberg war ja pensioniert.
Seine Antwort würde also davon abhängen, was ihm Paul Hjelm, sein alter Kollege, anzubieten hatte. Und wenn er eines benötigte, dann war es Geld.
»Was ist los?«, flüsterte Ludmilla von ihrem Handtuch aus. »Danke wofür?«
»Ich habe ein Stipendium erhalten ...«
»Wofür?«
»Für mein Buch, den Roman. Die finden, dass er spannend klingt.«
»Wer sind ›die‹?«
»Die EU«, antwortete Gunnar Nyberg, und als er begriff, wie grotesk das klang, fügte er noch hinzu: »Fünftausend Euro!«
Ludmilla riss die Augen auf, und ihr Wunsch, reflexhaft zu protestieren, verebbte wieder. Fünftausend Euro waren eine ordentliche Stange Geld.
»Ich muss mit ihm ein paar Details besprechen«, sagte Nyberg und zeigte aufs Telefon. »Ich soll irgendwelche umständlichen EU-Formulare ausfüllen.«
Ludmilla nickte, und Gunnar schlenderte den Strand hinunter. Als er das Gefühl hatte, außer Hörweite zu sein, setzte er sich in den feuchten Sand und hielt die Zehen ins Wasser. Die Türkei schien so nah, als müsste er nur die Hand ausstrecken, um das Land berühren zu können.
Er war nach wie vor nackt. Und er befand sich nach wie vor im Paradies.
»Bist du noch dran?«,
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