Neid: Thriller (Opcop-Gruppe) (German Edition)
Entscheidung.
Sich als Muslima von einem starken, dominanten Kollektiv abzuwenden, einem Patriarchat, hatte zur Folge, dass man jede Form von Kollektiv mied, jede Form von Gemeinschaft. Vielleicht müsste das gar nicht sein, aber bisher hatte Corine Bouhaddi keine wirklich vernünftige Alternative gefunden. Sie musste frei sein, also musste sie allein sein.
Aber wie sie da in der verlassenen Wohnung in der Lauriergracht saß, in einem wirklich unangenehmen, feuchten Halbdunkel, spürte sie zum ersten Mal, dass das Alleinsein nicht ausreichte. Plötzlich genügte es ihr nicht mehr.
Aber sie wusste keinen Ausweg, hatte keinen Plan, um unvermittelt ihr Leben zu ändern. Corine Bouhaddi hatte sich für ihren Weg entschieden, und so war sie eine muslimische, einsame professionelle Europol-Polizistin. Die ab und zu einen Joint rauchte, weil Alkohol verboten war.
Konnte man das überhaupt ein Leben nennen?
Bouhaddi saß wie festgewachsen auf ihrem Stuhl am Schreibtisch und starrte auf die Monitore, auf denen sich absolut nichts ereignete. Sie wagte es nicht, sich für einen kurzen Moment aufs Sofa zu legen. Dann würde sie sofort einschlafen. Es war schrecklich. Sie war gezwungen, auf die nächtlichen, trostlosen Bildschirme zu starren und sich mit ihren Dämonen auseinanderzusetzen. Und sie hatte sich auch noch freiwillig für diesen Dienst gemeldet.
Der Dämon, der ihre Kindheit beherrscht hatte, war Aisha Qandisha, das schaurigste aller Geistwesen. Zuerst erschien sie immer in ihrer vollen Schönheit, das weiße Kleid, die langen Haare, die sinnlichen Bewegungen. Zu Anfang war es phantastisch gewesen. Bis der Schock kam, ihre Verwandlung. Wenn man älter wurde, hatte auch schon ihre Schönheit etwas Abschreckendes, weil man wusste, was noch kommen würde. Dieses Wissen konnte den Schock allerdings nicht mildern. Vielmehr verstärkte er ihn, und die Verwandlung der zuvor milden Gesichtszüge der Gräfin wurde zum schlimmsten Albtraum von Corines Kindheit. Sie kam immer so nah, so schrecklich nah. Sie steuerte in rollenden Bewegungen auf einen zu, das weiße Kleid flimmernd wie eine Fata Morgana und mit einem Lächeln auf den Lippen. Einem Lächeln, das mit jedem Schritt brüchiger wurde, während ihr Gesicht verweste, die Knochen durch blutige Fleischfetzen stießen und die geplatzten Augen die Wangen heruntertropften. Und jetzt war Aisha Qandisha wiedergekommen, ihr Gesicht verrottete, und sie kam immer näher und näher. Als würde sie ihre schnell verwesende Fleischlichkeit direkt auf Corines Sehnerv brennen wollen.
Und dann verschwand sie plötzlich. Wie zu Kindheitszeiten. Und hinterließ eine fürchterliche Leere. Corine Bouhaddi atmete tief ein und aus. Jetzt sah sie nichts mehr. Alles war Leere.
Auch auf den Monitoren. Kein Leben, nirgendwo. Die Rumänen über ihr schliefen, und vermutlich tat auch Marinescu auf der anderen Seite der Gracht dasselbe.
Die Einzige, die auf der ganzen weiten Welt wachte, war Corine Bouhaddi.
Dachte sie. Aber in einem kleinen Haus in der Ortschaft Loosduinen, die später zu Den Haag eingemeindet werden sollte, saß Angelos Sifakis und war hellwach. Er hatte kretische Wurzeln, seine gesamte Familie stammte von der Insel, er selbst aber war vor Jahren das letzte Mal dort gewesen. Obwohl er in Athen aufgewachsen war, meldete sich in ihm vor allem die Erinnerung an die Sommer seiner Kindheit auf Kreta. Auch sein Name war kretischen Ursprungs und historisch gesehen nicht ganz unproblematisch. Sifakis wusste zwar nicht, ob die Geschichte stimmte, aber die Legende besagte, dass der Name in die Zeit zurückreichte, als die Türken die Insel okkupierten. Sie bezeichneten die Kreter alle als »die Kleinen«, indem sie ihnen an ihre Namen den verniedlichenden und verunglimpfenden Zusatz »aki« hängten. Denn die Kreter waren rebellische Kerle, und die Türken mussten ihre Macht demonstrieren. Aber so einfach ging das nicht. Die Kreter nämlich veredelten den verunglimpfenden Zusatz und verwandelten ihn in das weitaus männlichere »akis«. Aus »To Sifaki« wurde also »O Sifakis«. So wie in Angelos Familie.
Auch von dieser Familie hieß es, sie sei rebellisch. Sie gehörte angeblich sogar zu den dickköpfigsten Bewohnern der ganzen Insel. Aber das ließ sich nicht beweisen. Erst nachdem Sifakis Polizist geworden war und einen Platz in einem Korps gefunden hatte, dessen Ausmaß an Korruptionsempfänglichkeit er noch gar nicht begriffen hatte, entdeckte er seine Wurzeln. Die
Weitere Kostenlose Bücher