Neid: Thriller (Opcop-Gruppe) (German Edition)
als wäre er physisch anwesend, ein wütend schnaubender, aber tief im Inneren freundlicher und sehr vernünftiger Muskelberg. Donatella Bruno war die Letzte, die ihn lebend gesehen hatte, ihn und seine rumänische Kollegin Livinia Potorac, Marinescus Vorgängerin. Sie erinnerte sich genau an ihre Bedenken, als sie die beiden zu dem Schuppen im Wald außerhalb von Rom gefahren hatte, wo sie das Fahrzeug gewechselt hatten. Oft musste sie daran denken, dass sie den unermüdlichen Mafiajäger dort zum letzten Mal gesehen hatte, als er sich auf seinen Weg ins Herz der Finsternis machte. Und dabei eine junge Mutter mit in den Tod riss.
Und jetzt saß sie hier. Im Norden Europas. Der Süden bebte. Die Korruption nahm unüberschaubare Ausmaße an. Südeuropa weigerte sich, neue Kredite aufzunehmen. Eine Schneise zog sich quer durch den Kontinent, vom Atlantik bis nach Russland. Und Berlusconi war auf dem Rückzug.
Sie liebte ihr Land über alles, aber trotzdem war es momentan schön, nicht in Italien zu sein. Es könnte das großartigste Land auf Erden sein. Aber das war es nicht. Die Berlusconi-Ära näherte sich zwar offenbar ihrem Ende, aber sie hinterließ eine größere Spur der Verwüstung als die Goten vor vielen Jahrhunderten. Nicht einmal die Mafia hatte Italien so zugesetzt. Diese komplizierte Mafia. Deren innere Strukturen deutlich älter waren als die Nation. Unersetzlich für die amerikanische Invasion im Faschismus durch ihren eindeutigen und expliziten Ehrenkodex. Aber auch die Geißel eines ganzen Landes. Dazu ein von Korruption zerfressener Staatsapparat. Vereinzelt gab es heldenhafte Richter und Polizisten, und eigentlich funktionierte die Rechtsprechung, aber alles wurde von einem machtgierigen Netzwerk überzogen. Und als Krönung des Elends gab es diesen Apostel der Oberflächlichkeit, den Messias des Machtmissbrauchs, den Peiniger der Menschheit, Silvio Berlusconi. Die Kunst, die eigenen schmutzigen Geschäfte zur politischen Agenda zu machen. Die Kunst, einen ganzen Staatsapparat, jede demokratische Institution in eine Tochtergesellschaft seiner eigenen Unternehmungen zu verwandeln.
Nein, genug der Entrüstung. Sie war jetzt im Norden. Allein im Norden. Im Süden hatte sie es als eine Notwendigkeit empfunden, allein zu leben, um ihren Selbstwert zu wahren in einer Welt des Machismo. Aber hier oben? Vor Kurzem hatte sie eine Affäre gehabt mit einem Universitätsprofessor aus London, der einen Hang zu ungewöhnlichen Geschenken hatte. Aber der Norden war eine andere Welt, und sie fühlte sich einsam. Alles war kühl und ernst. Geschäftig, karg, langweilig. Und die Menschen gingen früh zu Bett.
Sogar die Korruption war eine andere. Eine protestantische, ernsthafte Korruption. Ein hart arbeitender Mensch sagt, dass ein anderer ein hart arbeitender Mensch ist, und vorzugsweise handelt es sich dabei um einen Verwandten. Also bekommt derjenige den Job. Unter der Hand. Eine Kultur der offiziellen Geheimnisse. Alle wissen davon, aber niemand spricht darüber.
Donatella Bruno holte den zerfledderten Stapel mit inoffiziellem Ermittlungsmaterial aus der Tasche, spürte aber gleich, dass sie keine Energie mehr dafür hatte. Nicht heute Nacht. Sie war nicht in der Stimmung.
Es war kurz vor Mitternacht und höchste Zeit, schlafen zu gehen. Natürlich gab es hier ein ausgeklügeltes System, um Überstunden auszugleichen, und daher die Möglichkeit, nach einem harten Einsatz am nächsten Tag auszuschlafen. Wurde aus Europa ein reines Nordeuropa? Lag es wirklich nur an den vielen Sonnenstunden und den kurzen Wintermonaten, dass es alle Nordeuropäer nach Süden zog? Lag es nicht auch an dem anderen Lebensstil? Ausgerechnet an jenem Lebensstil, den man gerade so ausdrücklich infrage stellte? Bei dem es nicht unablässig darum ging, die Einnahmen zu maximieren und zielstrebig auf das nächste Magengeschwür hinzuarbeiten?
Zeit, schlafen zu gehen.
Der Meinung war Corine Bouhaddi auch, die allein in der kleinen Einzimmerwohnung ein Stockwerk unter dem rumänischen Trio saß. Nachdem sie ein regelmäßiges Muster, eine Routine ausgemacht hatten, war beschlossen worden, dass ein Polizist auf diesem Posten ausreichte. Allerdings wurde die Arbeit dadurch um ein Vielfaches einsamer.
Im Grunde machte das Bouhaddi nichts aus. Das Alleinsein gehörte zu ihrem Wesen. Für sie bestand kein Unterschied darin, ob sie hier oder in ihrer Wohnung allein war. Es war das Gleiche. Und ihre Entscheidung. Ihre ganz eigene
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