Nein! Ich geh nicht zum Seniorentreff! - Ironside, V: Nein! Ich geh nicht zum Seniorentreff! - The Virginia Monologues
daran, wie der Film ausging. Ich habe ihn mir also noch einmal angesehen, und es kam mir vor, als wäre es eine Premiere. Beim Panzerkreuzer Potemkin ging es mir ähnlich. Ich weiß, dass mein V ater damals mit mir ins Kino gegangen ist und wir uns den Film angesehen haben; ich glaube, da war ich vierzehn. Überhaupt bin ich ein großer Fan von alten Schwarzweißfilmen (dazu gehören auch Streifen wie V ictim, Der Diener und Die Faust im Nacken). Ich finde, dass diese Filme den heutigen nicht nur um Längen überlegen sind, sie sind dadurch, dass ich die Handlung vergessen habe, für mich immer ganz neu und frisch.
Wie schön, dass ich die
alten Schmerzen vergessen habe
Wir neigen zwar dazu, emotionale V erletzungen nicht vergessen zu können, die physischen dagegen schon, aber ich freue mich sagen zu können, dass ich mich gar nicht mehr erinnern kann, wie fürchterlich depressiv ich früher oft war. A uch an die Sechzigerjahre kann ich mich, Gott sei Dank, kaum noch erinnern. (Es heißt doch immer, dass man nicht dabei war, wenn man sich nicht an die Sechziger erinnert. Bei mir ist die Gedächtnislücke aber eher so etwas wie die V erdrängung eines Traumas.) Dazu gehört auch, dass ich mich an die meisten der grässlichen Männer, mit denen ich damals ins Bett gegangen bin, nicht mehr erinnern kann. Neulich hat mich in einer Bar ein alter Kerl mit Bierbauch und dünnem grauen Pferdeschwanz angesprochen. » Ach V irginia«, säuselte er und blies mir dabei seinen A lkoholatem ins Gesicht, » ich erinnere mich noch gut an deinen schönen Körper!«
Im Brustton der Überzeugung konnte ich ihm jedoch antworten– und zwar so laut, dass man es in der halben Bar hören konnte: » Aber ich mich nicht an deinen!« Und vernichtend fügte ich am Schluss noch hinzu: » Darling!«
Und es stimmte. Ich erinnerte mich nicht mehr. W as für ein Segen.
Wie schön, das nutzlose Zeug
endlich vergessen zu können!
Für manche Männer muss es ganz schön schlimm sein, sich einfach nicht mehr an bestimmte Daten erinnern zu können– zum Beispiel, ob Napoleon nun 1814 nach Elba verbannt wurde oder 1815 . (Männer können aufgrund ihrer andersartigen Gehirnstruktur Daten und Fakten besser behalten als Frauen. Deshalb gibt es auch kaum weibliche Gedächtniskünstler und weniger weibliche W issenschaftler als männliche.) A ber einen Trost gibt es: W er will schon sein wie diese Menschen, deren Gehirne die reinsten Rumpelkammern sind– oder fürchterlich vollgestopfte, zugemüllte W ohnungen, wie man sie heutzutage in bestimmten Fernsehsendungen sieht, wo dann der sogenannte » Messie-Experte« gerufen wird, um den Betroffenen beim A usmisten zu helfen. In extremen Fällen sind diese Menschen (die Gedächtniskünstler meine ich) nicht mal in der Lage, ein normales Leben zu führen, weil ihr Hirn so mit nutzlosen Informationen vollgestopft ist, dass sie sich nicht auf die Notwendigkeiten des A lltags konzentrieren können.
In A rthur Conan Doyles Eine Studie in Scharlachrot gibt es eine wunderbare Stelle, wo Dr. W atson Sherlock Holmes erklärt, dass die Erde um die Sonne kreist und nicht umgekehrt– eine Tatsache, die dieser offenbar bis dato noch gar nicht gewusst hatte. Dies ist seine A ntwort: » Das menschliche Gehirn ist ursprünglich so eine Art leere Dachstube, die sich jeder nach eigenem Willen und Ermessen einrichten kann. Nur ein Narr wird sie mit all dem Plunder, der ihm ins Gehege kommt, vollstopfen… Sie sagen, wir drehen uns um die Sonne. Meinetwegen. Und wenn wir um den Mond kreisten: ergäbe sich daraus für meine Arbeit und mich ein Unterschied?«
Hervorragendes Langzeitgedächtnis
Unser Kurzzeitgedächtnis mag zwar nachlassen, aber dafür wird unser Langzeitgedächtnis im A lter immer besser. Mir kommt es vor, als würden jetzt immer mehr Risse in den Mauern meines Bewusstseins aufklaffen und mir Einblicke in die V ergangenheit gewähren– Einblicke, die so lebhaft sind, als würde ich das Ganze noch einmal erleben. Solche Momente lösen bei mir meist intensive Gefühle aus, Gefühle, die ich so zum damaligen Zeitpunkt gar nicht empfunden hatte.
Ich war zum Beispiel neulich in einem Teppichgeschäft und schaute mir verschiedene Stoffproben an. Dabei stieß ich auf ein braunes Gewebe, das genauso aussah wie ein Mantel, den mein V ater immer anhatte. Ganz plötzlich war ich wieder ein kleines Mädchen und ging an seiner Hand. Ich konnte ihn sehen, riechen, seine Stimme hören und glaubte förmlich, seine
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