Nein! Ich geh nicht zum Seniorentreff! - Ironside, V: Nein! Ich geh nicht zum Seniorentreff! - The Virginia Monologues
hat. Man kann das Panorama genießen. Und da es ab jetzt nur noch bergab geht, ist der W eg auch viel leichter.
Alles schon mal erlebt
Eine Freundin hat einmal gesagt, sie werde ganz deprimiert, weil ihre Tage so eintönig seien. Es passiere immer dasselbe, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Ich wandte ein, dass auf keinen Fall jeder Tag der gleiche sein könne, da sie mit jedem Tag eine größere A nzahl gleicher Tage hinter sich habe. Und diese A nhäufung von immer gleichen Tagen wird vielleicht irgendwann dazu führen, dass sie endlich etwas tut, um den kommenden Tag anders zu machen.
Die Zeit verändert die Dinge. Für uns Oldies wird es, offen gesagt, immer schwerer, etwas als vollkommen neu zu erleben. Das meiste, was uns jetzt passiert, wird uns an etwas erinnern, das wir bereits erlebt haben.
Ich war kürzlich in V enedig. Toll. Zauberhaft. A ber weil ich in meiner Jugend schon einmal dort war, habe ich die ganze Zeit über versucht, meine damaligen Rundgänge zu rekonstruieren, Restaurants zu finden, in denen ich damals gegessen hatte, Galerien zu besuchen, in denen ich damals war.
Was man nicht mehr tun kann, wenn man alt ist, ist, viele Dinge zum ersten Mal zu erleben.
Sich doch noch ändern?
Die Zeit ändert auch den Menschen. Erst im hohen A lter kann der Leopard vielleicht noch seine Flecken wechseln. Ich kenne Frauen, die lausige Mütter waren, jetzt aber fantastische Omas sind. Ich kenne Männer, die früher klug, clever und innovativ waren und nun zu mürrischen alten Meckergreisen geworden sind, die sich ständig über die » Jugend von heute« beklagen. Ich kenne eine Frau, die erst im hohen A lter weich wurde. Früher war sie eine überkritische, ja ätzend scharfe Person– heute ist sie jedoch aus heiterem Himmel charmant und tolerant, eine ausgesprochen liebenswerte alte Dame. Und ich kenne eine andere, die fast ihr ganzes Leben lang stoned war, nacheinander fünf Ehemänner verließ, vier Kinder von verschiedenen Männern bekam und nun in einem hübschen Dorf auf dem Lande Yoga unterrichtet. Sie ist ein Stützpfeiler der Gemeinde, fehlt in keinem Dorffest-Organisationskomitee und leistet bei jeder W ohltätigkeitsveranstaltung ihren Beitrag.
Und ist es nicht toll, wenn die Zeit auch Exfreunde verändert? A us goldenen Göttern, vor denen man in Hingabe kniete, werden im Laufe der Jahre alte Männer, die man kaum versteht, weil einem die Schuppen so laut von den A ugen donnern. Ich traf neulich einen alten Exfreund, dessen Haare doch tatsächlich zwei Schattierungen dunkler waren als in den Siebzigern, als wir zusammen waren.
Vor ein paar Jahren war ich auf einer Party und sah dort einen verhutzelten kleinen weißhaarigen Mann. Mein Herz krampfte sich zusammen, als ich ihn erkannte. Dies war der Mann, in den ich mit zwanzig wie toll verliebt war. Ich habe ihn nicht nur angehimmelt, sondern geradezu abgöttisch geliebt. Er war der Traum meiner wachen Stunden und der schlaflosen Nächte. Ich wurde schwanger von ihm, ließ eine A btreibung machen. Ja, ich wurde für ihn sogar zum Drogenkurier, als ihm in seinem runtergekommenen Cottage auf dem Lande irgendeine unaussprechliche Substanz ausging. Ich glaubte damals, dass es keinen anderen Mann auf der W elt für mich geben könne. Nach einer turbulenten Trennung habe ich ihn dann nie wiedergesehen. Bis jetzt.
Ich brauchte seinem konfusen Geschwafel aber nur ein paar Minuten lang zuzuhören, seinem Glauben an nordische Götter zu lauschen oder seinen brandneuen Erkenntnissen über Glastonbury, um zu erkennen, dass dieser Mann sich nicht nur kein bisschen weiterentwickelt hatte, seit wir uns zum letzten Mal gesehen hatten, sondern dass ich kein bisschen mehr in ihn verliebt war. Im Gegenteil, ich hatte sogar das dringende Bedürfnis, nichts mehr mit diesem Menschen zu tun haben zu müssen.
Also sagte ich: » Ich muss mal aufs Klo« und machte mich mit einem Gefühl der Erleichterung davon. W ie froh war ich, dass die Zeit mich und meine Gefühle vollkommen verändert hatte!
Neue Sichtweisen
Die Zeit ist ein großartiger Lehrmeister. Sie lehrt uns, die Dinge aus einem gewissen A bstand ganz neu zu betrachten, sie lehrt uns die » lange Sicht«. Früher, als unsere V ergangenheit bestenfalls zehn Zentimeter dick war, wäre das unmöglich gewesen. A ber heutzutage können wir unser A uge über ganze V ergangenheitsgebirgsketten schweifen lassen, die von Flüssen und W üsten durchzogen sind.
Wir haben im A lter ein viel besseres V erständnis
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