Nein! Ich möchte keine Kaffeefahrt!
Marion ist ein Schatz, und sie ist zwar als Köchin kein Naturtalent, servierte uns aber dampfende Suppe mit selbst gebackenem Brot und pappigen Nudelsalat. Ich hatte vielWein mitgebracht, und so hielten wir in der Küche an dem wackligen Kiefernholztisch, einem weiteren Relikt aus den Sechzigern, ein Gelage ab. Marion undTim sind nicht geizig oder so. Essen ist für sie eben Nebensache; Freunde, Gefühle und Bücher sind viel wichtiger.Was irgendwie charmant ist, aber deshalb hat man immer ein etwas bleiernes Gefühl im Bauch, wenn man bei Marion gegessen hat.
Verblüfft starrten wir alle auf die Fotos von unseren erwachsenen Kindern, die inzwischen viel älter waren als wir selbst bei unserer letzten Begegnung. Und als wir alle auf die Bilder glotzten, die Marion vor dem Essen auf demTisch ausgelegt hatte, befand ich mich ganz plötzlich wieder in unserem Klassenzimmer. Fehlten nur die ramponierten Schulbänke.
Obwohl wir nun alle nach Deos und Duftwässerchen rochen, hatte ich den vertrauten Geruch von Bleistiftspänen, saurer Milch und ungewaschenen Haaren in der Nase.Wir kicherten, als wir uns erinnerten, wie uns vor dem alten österreichischen Musiklehrer gegraust hatte, seufzten traurig, als wir darüber sprachen, dass Mrs Leach gestorben war ( » Aber wusstet ihr, dass sie Alkoholikerin war? « ), und spekulierten darüber, ob Mr Hitchin nun schwul war oder nicht.
Es hat etwas ungeheuer Entspanntes, mit Menschen aus der Kindheit zusammen zu sein, auch wenn man sie seither nicht mehr gesehen hat. Denn obwohl wir natürlich von unseren Lebenserfahrungen geformt und verändert werden, bleiben wir doch imWesentlichen dieselben. Gilly, unsere Spielleiterin beim Netzball, trug jetzt keineTurnhose mehr, sondern ein Designerkostüm, stürmte jedoch noch genauso schwungvoll ins Haus wie eine leidenschaftliche Sportlerin. Und Emily, unser Superhirn, beschäftigte sich jetzt hauptsächlich mit Marmeladekochen, ist aber immer noch die Einzige, die sich an die Namen aller Mitschülerinnen und auch noch an die Namen von deren Eltern oder Kindermädchen und sogar an unsere Geburtstage erinnern kann.
Ein erfolgreiches Klassentreffen ist wie eine Familienfeier. Es heißt, dass unsere Familien uns vom Schicksal gegeben werden, doch unsere Freunde suchen wir uns selbst aus.Aber Schulfreunde werden uns auch vom Schicksal zugeteilt, denn über unsere Klassen können wir nicht bestimmen.Wir wurden einfach zusammengewürfelt und mussten miteinander auskommen, ob uns das nun passte oder nicht.
Ich kenne niemanden, der seine einstige Schule mag, und das galt auch für uns. Dennoch war unsere Schule imVergleich mit den Erfahrungen anderer erstaunlich zivilisiert. Das Essen war ungenießbar, und für einhundertvierzig Mädchen standen nur zweiToiletten zurVerfügung, doch sie war nach den liberalen Ideen von Fröbel ausgerichtet. Es gab keine Strafen außerAntreten bei der Direktorin, und wir durften die Lehrer mitVornamen ansprechen.
Dennoch waren wir uns damals einig in unsererAblehnung des Schulsystems als solchem und tolerierten deshalb noch die unerträglichsten Eigenschaften unserer Mitschülerinnen– was man als Erwachsener meist nicht mehr hinbekommt.
Marion schoss schließlich denVogel ab. Sie konnte es nicht lassen, ihren altenWasserkrug-Trick mit mir abzuziehen, was damit endete, dass ich klatschnass war.Aber da ich um den Zustand von Marions Stühlen wusste und nicht selten auf Honig- und Marmeladenklecksen gesessen hatte, während meine Ellbogen auf demTisch in Joghurtpfützen ausglitschten, hatte ich nicht meine schicksten Sachen angezogen, und es entstand kein größerer Schaden.
Immer wieder wurde gekreischt: » Du siehst aus wie früher! « Und ich bekam zu hören: » Aber du, Marie, du siehst wirklich total aus wie früher! « Deshalb beschloss ich, mein Facelifting zu gestehen, worauf alle Stifte und Notizbücher zückten und inständig um die Daten von Mr P baten. Sehr vergnüglich.
Gegen vier verabschiedeten wir uns mit großen Umarmungen und Küsschen, als würden wir uns nie mehr wiedersehen.
Was unter Umständen eben auch der Fall sein wird.
9. August
Weil der Hotelinvestor uns unbedingt treffen wollte, trommelten wir auf die Schnelle alle Mitglieder desAnwohnervereins zusammen. Ich glaube, der gute Mann weiß noch nicht, dass dem Stadtrat eine fünfhundertsechzig Stimmen starke Petition gegen sein Projekt vorliegt.
Ross Shatterton, der Besagte, traf mit einem Gefolge von Designern,Architekten
Weitere Kostenlose Bücher