Nein! Ich möchte keine Kaffeefahrt!
und frühmorgens verwandelte sich die kleine Straße vor meinem Fenster in eine Rennstrecke für dröhnende Landwirtschaftsfahrzeuge.
Die Besitzerin der Unterkunft war, wie immer, eine wirklich reizende Frau mit einem behinderten Mann, die sehr stolz auf ihr kleines Reich war.Weshalb ich mir vorkam wie eine undankbare alte Zicke, wenn ich daran dachte, wie grauenvoll meine Nacht gewesen war.
Um meine niederträchtigen Gedanken wettzumachen, lobte ich überschwänglich das Frühstück, das aus Dosenpilzen, Bratspeck in einer weißen wässrigen Substanz und Rührei bestand, das offenbar schon vor einerWoche gebraten worden war.
Vor der Rückfahrt schaute ich noch einmal beiArchie rein. Er starrte mit leerem Blick auf die Zeitung und deutete plötzlich auf ein Foto von einem Baum. » Ich! « , sagte er aufgeregt. » Ich! «
Ich warf einen Blick auf das Bild. Eine Eiche.
» Ich glaube, du meinst ›Eiche‹ « , erwiderte ich und legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter.
» Eiche! « , rief er. » Eiche! «
Es ist für uns alle sehr schmerzhaft. Oje, ich fange an zu weinen. Es fällt schwer, es nicht zu tun.Wird man mit demAlter gefühlsbetonter? Manchmal kommt es mir so vor, als wäre ich mittlerweile regelrecht abgebrüht. Doch dann breche ich wieder beim geringstenAnlass inTränen aus. Reiß dich zusammen, Marie.
Das hört sich vielleicht etwas herzlos an, aber man begreift den langsam voranschreitenden Effekt vonAlzheimer wirklich erst, wenn man ihn bei jemandem miterlebt hat. Ein paar Jahre lang ist der vertraute Mensch noch vorhanden, und dieVergesslichkeit, die sonderbaren Gespräche undVerworrenheiten sind einfach etwas lästig. Es ist, als würde eine gute alte Freundin zunehmend merkwürdigere Kleidung tragen, bis man sie irgendwann kaum mehr erkennen kann. Und dennoch erhascht man immer wieder zwischen Hüten und Schleiern einen Blick auf die vertraute Person und erkennt sie noch an ihrem Gang und der Haltung beim Hinsetzen undAufstehen.
Bis man dann einesTages merkt, dass sie ganz verschwunden ist. Nicht mehr da ist. Diese Momente desWiedererkennens sind jedenfalls so selten geworden, dass die Person auch ganz weg sein könnte. Und man findet bei diesem Prozess keine wirkliche Gelegenheit zumAbschied, weil er so unaufhaltsam und beständig voranschreitet.Was furchtbar traurig ist.
Es ist eineArt vonTod oder ein langsames Sterben. Ich meine, hätteArchie sich von einemTag auf den anderen so drastisch verändert, hätte ich wohl einen Nervenzusammenbruch bekommen. Doch da er sich über mehrere Jahre veränderte, gab es keinen konkreten Moment, in dem ich denVerlust schlagartig bemerkte. Er ist so schwer zu greifen.
24. August
Hab mich jetzt aufgerafft und dasTicket für New York gebucht.
Später
Die Glühbirne im Flur hat den Geist aufgegeben. Da die Decke sehr hoch ist, bat ich Michelle, mir die Leiter zu halten.
» MeinVatär, er iest gefallän von Lättähr « , sagte sie.
Es dauerte mehrere Momente, bis ich verstanden hatte, was sie mir sagen wollte.Aus irgendeinem Grund scheint sich Michelles Englisch zusehends zu verschlechtern.Vielleicht geht sie gar nicht in ihren Unterricht, sondern arbeitet imWest End als Callgirl, um ihre Kaufsucht zu finanzieren. Letztes Jahr noch hätte ich mir deshalb entsetzliche Sorgen gemacht.Aber jetzt denke ich, offen gestanden, dass Michelle alt genug ist, auf sich selbst aufzupassen.
Doch beim Gedanken daran, dass Chrissie und Gene jetzt da waren und dass ich auch von einer » Lättähr « fallen oder bei einem Flugzeugabsturz umkommen könnte, beschloss ich, vor meinerAbreise meinTestament zu aktualisieren.
Und statt aufArchies Rasen zu starren, sollte ich mich lieber um meinen eigenen kümmern. Er sieht aus wie ein Dschungel. Pouncer kann kaum mehr über das Gras gucken.
September
1. September
War eben beim Notar. Er wird einen Entwurf von meinemTestament machen. Ich habe einen wunderbaren Notar, einen richtig altmodischen mit Schlips und Kragen, der zwischen Bergen von Papieren in einem schäbigen, staubigen Büro hockt. Er heißt Mr Rankle und hat einen weißen Schnauzbart, und ich kann nur hoffen, dass er lange genug lebt, um mit diesenAktenbergen fertigzuwerden. Er besitzt nicht mal einen Computer.Weiß der Himmel, wie er heutzutage noch zurechtkommt. Er schreibt vielleicht nicht mehr mit Federkiel, aber das würde gut zu ihm passen.
Wir plauderten ein bisschen über unsere Familien, dann legte er sich ein Blatt Papier zurecht. » Nun, dann
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