Nein sagen und trotzdem erfolgreich verhandeln: Vom Autor des Harvard-Konzepts (German Edition)
unverständlichen Flüche eines Mannes durchbrochen, der ins Abteil taumelte. Er trug Arbeiterkleidung, war groß, betrunken und ungepflegt. Mit einem lauten Schrei versetzte er einer Frau, die ein Baby im Arm hielt, einen heftigen Schlag, sodass sie auf dem Schoß eines älteren Ehepaars landete. Wie durch ein Wunder blieb sie unverletzt.
Erschrocken sprang das Paar auf und stolperte in den hinteren Teil des Abteils. Der Arbeiter versuchte, der alten Frau noch einen Tritt zu versetzen, aber er verfehlte sie um Haaresbreite, sodass sie sich in Sicherheit bringen konnte. Das machte den Betrunkenen so wütend, dass er den Metallpfosten inmitten des Abteils packte und ihn aus seiner Verankerung zu lösen versuchte. Ich bemerkte, dass eine seiner Hände blutete. Der Zug fuhr weiter, und die Passagiere waren gelähmt vor Angst. Ich stand auf.
Damals, vor 20 Jahren, war ich noch jung und gut trainiert. Seit drei Jahren absolvierte ich fast täglich ein gut dreistündiges Aikido-Training. Ich fühlte mich einer Schlägerei durchaus gewachsen. Und ich hielt mich für einen harten Burschen. Das Dumme war nur, dass ich meine kämpferischen Fähigkeiten noch nie im richtigen Leben ausprobiert hatte. Eigentlich war es uns Aikido-Schülern verboten, zu kämpfen.
»Aikido«, so hatte mein Lehrer immer wieder betont, »ist die Kunst der Versöhnung. Wer dabei an Kampf denkt, zerstört seine Verbindung mit dem Universum. Wenn man versucht, Menschen zu beherrschen, ist man schon besiegt. Wir lernen hier, wie man einen Konflikt löst, nicht, wie man ihn anfängt.«
Ich hörte auf seine Worte und bemühte mich in der Regel sehr, seinen Rat zu befolgen. Ich pflegte sogar die Straßenseite zu wechseln, um die Kriminellen und Punks zu umgehen, die an den Bahnhöfen herumlungerten. Ich war von meiner eigenen Duldsamkeit begeistert und fühlte mich gleichzeitig hart im Nehmen und heilig. Tief im Herzen jedoch wünschte ich mir eine Gelegenheit, in der es absolut legitim war, die Schuldigen zu zerstören, um die Unschuldigen zu retten.
»Und jetzt ist diese Gelegenheit da!«, dachte ich nun bei mir und erhob mich. » Die Leute hier sind in Gefahr, und wenn ich nicht schnell etwas unternehme, wird wahrscheinlich jemand verletzt.«
Der Betrunkene sah mich aufstehen und hatte nun endlich eine Zielscheibe für seine Wut gefunden. »Aha!«, brüllte er. »Ein Fremder! Sie brauchen wohl ein paar Nachhilfestunden in japanischen Manieren!«
Ich hielt mich leicht am Haltegriff fest und warf ihm bedächtig einen ebenso geringschätzigen wie angeekelten Blick zu. Ich wollte diesen Kerl auseinandernehmen, aber er musste den ersten Schritt tun. Ich wollte, dass er vor Zorn raste, also schürzte ich die Lippen und warf ihm einen provozierenden Luftkuss zu.
»Okay!«, brüllte er. »Dir werde ich eine Lektion erteilen.« Und dann machte er sich bereit, sich auf mich zu stürzen.
Da rief plötzlich jemand: »Hey!« In dieser angespannten Situation klang es erschreckend laut. Ich erinnere mich an den seltsam fröhlichen, trällernden Unterton – wie jemand, der mit seinem Freund zusammen lange nach etwas Bestimmtem gesucht hat und sich freut, als der andere fündig wird: »Hey!«
Ich wirbelte nach links, der Betrunkene drehte sich nach rechts. Wir starrten einen kleinen, alten Japaner an. Er musste so um die 70 sein, dieser winzige Mann in seinem makellosen Kimono. Er schenkte mir keinerlei Beachtung, aber den Arbeiter strahlte er voller Entzücken an, als ob er mit ihm ein höchst wichtiges und höchst willkommenes Geheimnis teilen wollte.
»Komm mal her«, sagte der alte Mann mit leichtem Dialekt und winkte den Betrunkenen zu sich herüber. »Komm her und red mit mir.« Er winkte noch einmal.
Der große Mann ging zu ihm hinüber, als ob er von einem unsichtbaren Band gezogen würde. Angriffslustig pflanzte er sich vor dem Alten auf und übertönte mit seinem Gebrüll erneut das Klappern der Räder. »Warum zum Teufel sollte ich mit Ihnen reden?« Der Betrunkene wandte mir nun den Rücken zu. Wenn sich sein Ellbogen nur einen Millimeter in meine Richtung bewegt hätte, hätte ich ihn niedergebügelt.
Der alte Mann strahlte den Arbeiter immer noch an.
»Was hast du getrunken?«, fragte er hoch interessiert und mit blitzenden Augen. »Sake«, bellte der Arbeiter. »Aber das geht dich gar nichts an!« Ein paar Speicheltropfen spritzten auf den alten Mann.
»Oh prima«, sagte der Alte. »Das ist ja toll. Weißt du, ich trinke auch gern Sake.
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