Nein sagen und trotzdem erfolgreich verhandeln: Vom Autor des Harvard-Konzepts (German Edition)
Jeden Abend wärmen meine Frau und ich (sie ist 76, weißt du) uns ein Fläschchen Sake auf und nehmen es mit hinaus in den Garten. Da setzen wir uns dann auf eine alte Holzbank. Wir betrachten den Sonnenuntergang und schauen uns unseren Dattelpflaumenbaum an. Den hat nämlich schon mein Urgroßvater gepflanzt, und wir fragen uns, ob er sich von den Winterstürmen des letzten Jahres erholen wird. Immerhin hatte er sich besser entwickelt, als ich erwartet hatte, besonders wenn man die schlechte Bodenqualität bedenkt. Es ist sehr befriedigend, ihn anzuschauen und dabei unseren Sake zu trinken. Überhaupt lieben wir es, da draußen zu sitzen und den Abend zu genießen – sogar bei Regen!« Er zwinkerte dem Arbeiter zu.
Der musste sich anstrengen, dem Redefluss des alten Mannes zu folgen, und seine Züge wurden weicher. Seine Fäuste entspannten sich. »Ja«, sagte er. »Ich liebe Dattelpflaumen auch …« Seine Stimme erstarb.
»Ja«, antwortete der alte Mann lächelnd. »Und ich bin überzeugt, dass du ebenfalls eine wunderbare Frau hast.«
»Nein«, antwortete der Arbeiter. »Meine Frau ist gestorben.« Und der große Mann begann ganz leise zu schluchzen und schwankte mit der Bewegung des Zuges sanft hin und her. »Ich hab keine Frau . Ich hab kein Haus . Ich hab keinen Job . Ich schäme mich so für mich selbst.« Tränen rannen seine Wangen hinab, verzweifeltes Weinen schüttelte seinen Körper.
Und jetzt war es an mir, mich zu schämen. Da stand ich nun, in meiner blank geputzten Unschuld und meiner Mach-diese-Welt-sicher-für-die-Demokratie-Selbstgerechtigkeit und fühlte mich plötzlich schmutziger, als er es war.
Der Zug hielt an meiner Haltestelle. Die Türen öffneten sich, und ich hörte den alten Mann noch mitfühlend vor sich hin glucksen: »Ach du je«, sagte er. »Du bist aber wirklich in einer schlimmen Lage. Komm, setzt dich zu mir und erzähl mir alles.«
Ich drehte mich um, um einen letzten Blick auf die beiden zu erhaschen. Der Arbeiter hatte sich auf dem Sitz ausgestreckt, sein Kopf ruhte im Schoß des alten Mannes. Der Alte streichelte sanft das schmutzige, verfilzte Haar.
Der Zug fuhr davon, und ich setzte mich erst einmal auf eine Bank. Was ich mit Muskelkraft hatte bewirken wollen, war mit netten Worten geleistet worden. Ich war soeben Zeuge des richtigen Einsatzes von Aikido in Auseinandersetzungen geworden: Das Wesen dieser Kampfsportart war die Liebe. Ab sofort würde ich diese Kunst mit einem vollkommen anderen Geist praktizieren müssen. Und es würde noch lange dauern, bevor ich Konflikte auf friedliche Weise würde lösen können.
Diese außergewöhnliche Geschichte illustriert eine alltägliche Möglichkeit: die überraschende Macht des Respekts. Der alte Mann benutzt ein paar einfache Gesten, um dem anderen seine Achtung zu schenken: Er ist aufmerksam, hört zu, zeigt Anerkennung und Bestätigung. Dadurch gelingt es ihm, einen vermeintlich gefährlichen Menschen zu entwaffnen und Nein zur Gewalt zu sagen. Die gleiche Macht des Respekts steht auch uns zur Verfügung.
Achtung ist eine positive Gesinnung, die jeder von uns jederzeit annehmen kann. Sie beginnt mit Selbstachtung.
Fangen Sie mit Selbstachtung an
Um unsere Mitmenschen respektieren zu können, müssen wir erst lernen, uns selbst zu achten, denn nur dann kann unser Respekt für andere aufrichtig und tief empfunden sein. Das gelassene Selbstvertrauen des älteren Herrn im Zug, ebenso wie seine Bereitschaft, einem vollkommen Fremden – der zu allem Überfluss noch potenziell gewalttätig war – von seinem Privatleben zu erzählen, zeigt, wie sehr dieser Mann sich selbst respektierte. Selbstachtung schafft den emotionalen und mentalen Raum, der es uns gestattet, den anderen wirklich wahrzunehmen. Deshalb geht es bei dem allerersten Schritt zum positiven Nein – beim Enthüllen unseres Jas – auch im Wesentlichen um Selbstachtung.
Zuallererst einmal müssen Sie sich selbst positive Aufmerksamkeit schenken – Ihren Gefühlen, Interessen und Ihren Bedürfnissen. Dann gehen Sie dazu über, den anderen zu respektieren. Sie erweitern Ihren Radius der Achtung, indem Sie ihn als Mitmenschen wahrnehmen, der ebenfalls Gefühle, Interessen und Bedürfnisse hat.
Respekt in dem Sinne, wie ich den Begriff hier benutze, muss nicht durch Wohlverhalten erworben werden; jeder Mensch hat ihn verdient, einfach nur, weil er menschlich ist. Sogar erbitterte Gegner können unter schwierigen Umständen diese grundlegende Art der
Weitere Kostenlose Bücher