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Nekropole (German Edition)

Nekropole (German Edition)

Titel: Nekropole (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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das Kreuzzeichen vor Stirn und Brust zu schlagen. Jetzt fehlte nur noch, dachte er spöttisch, dass er die Hand ausstreckte und den Toten segnete.
    Und tatsächlich hielt Clemens die Hand über den Abgrund, legte Zeige- und Mittelfinger aneinander und segnete den Leichnam. Natürlich war es Zufall – woran aber in diesem entsetzlichen Moment keiner von ihnen glauben konnte oder auch nur wollte –, dass sich der Tote genau in diesem Augenblick zu bewegen begann und sich auf die zerschmetterten Gliedmaßen in die Höhe zu stemmen versuchte. Andrej empfand kein Entsetzen bei dem Anblick. Für das, was er spürte, reichte dieses Wort bei Weitem nicht mehr aus.
    »Das hätte nicht geschehen dürfen«, flüsterte Clemens mit bebender Stimme. »Niemals! Ich habe gesagt, niemand darf sterben! Nicht hier!« Die Worte jagten Andrej einen eisigen Schauer über den Rücken, denn sie gaben ihm das Gefühl, dass da noch etwas war, von dem er nichts wusste, das aber von entsetzlicher Bedeutung war.
    Aber vielleicht wusste er es ja schon längst und wollte es nur nicht begreifen.
    Abu Dun musste es wohl ganz ähnlich ergehen, doch er ließ nur ein leises, humorloses Lachen hören. »Das ist in der Tat ein ungeheuerlicher Frevel«, sagte er. »Gib mir den Befehl, und ich steige hinab und schlage den Burschen windelweich, weil er es gewagt hat, ohne deine Erlaubnis zu sterben!«
    Ali fuhr so heftig herum, dass sich selbst eine Schlange erschreckt hätte, und zischte auch im dazu passenden Tonfall: »Was erdreistest du dich?«
    »Schon gut.« Clemens brachte ihn mit erhobener Hand und derselben Geste zum Schweigen, mit der er gerade scheinbar den Toten wieder zum Leben erweckt hatte. »Abu Dun hat recht. Ich hätte das nicht sagen dürfen. Diesen armen Mann trifft keine Schuld. Es war nur mein eigener Schrecken. Bitte verzeiht.«
    »Niemand hat das Recht, so mit Euch zu sprechen!«, beharrte Ali.
    Einen halben Atemzug lang war Andrej ernsthaft in Versuchung, Abu Duns Wort aufzugreifen und nach unten zu dem auf so grässliche Weise wieder lebendig gewordenen Toten zu klettern, um der furchtbaren Kreatur endgültig den Garaus zu machen, aber schon der nächste Blick zeigte ihm, dass es keinen Weg gab, um zu ihm zu gelangen, und für den Untoten somit umgekehrt auch keine Möglichkeit, sie zu erreichen – was er mit seinen zerschmetterten Gliedern wohl auch nicht gekonnt hätte. Mit der Beharrlichkeit eines Automaten stemmte er sich immer wieder auf Hände und Knie hoch, sank aber stets wieder zurück, weil sein zerbrochenes Skelett das Gewicht des Körpers nicht mehr tragen konnte. Wie eine grässliche menschengroße Krabbe, der man die Hälfte der Beine ausgerissen hatte, rutschte und schlitterte er seitlich von dem Geröllhaufen herunter und löste dabei unzählige kleine Lawinen aus, die ihm weitere Wunden zufügten und ihn zeitweise unter sich begruben, aber nichts von alledem hinderte ihn daran, sich weiter vor- und seitwärts zu schleppen. Dennoch ging keine Gefahr mehr von ihm aus, begriff Andrej. Selbst wenn es irgendwo in den gemauerten Eingeweiden dieses Labyrinths eine Treppe gab, die zu ihnen heraufführte, würde er sie weder finden noch bewältigen. Andrej hatte oft genug gesehen, wie flüchtig das geschenkte Un-Leben war, das diese Kreaturen erfüllte. In längstens einer Stunde war das dort unten tatsächlich nur noch ein Haufen verrottendes Fleisch, in dem sich nur noch die Maden bewegten.
    Nicht, dass ihn das auch nur im Mindesten beruhigte.
    Vorsichtig erhob er sich aus der Hocke, trat einen Schritt zurück und drehte sich zu Clemens um. »Erklär es mir!«, verlangte er.
    »Hast du es denn immer noch nicht begriffen, du Narr?«, zischte Ali.
    »Nein«, antwortete Andrej, ohne, dass sein Blick den Clemens’ losgelassen hätte. »Dann würde ich nicht fragen, oder? Was ist hier geschehen? Dieser Mann wurde weder gebissen noch auf andere Weise von diesen Bestien verletzt! Wieso wacht er wieder auf? Du weißt es, und du wirst es mir jetzt sagen!«
    Er bemerkte aus den Augenwinkeln, wie Ali die Schultern straffte – möglicherweise setzte er dazu an, jetzt mehr zu tun, als ihn nur mit Worten zurechtzuweisen. Abu Dun spannte sich an. Gewalt lag in der Luft wie etwas Greifbares, doch dann machte Clemens wieder eine seiner beruhigenden Gesten.
    »Du hast jedes Recht darauf, Antworten zu verlangen«, sagte er. »Doch ich bräuchte hundertmal mehr Zeit, als uns bleibt, um es dir zu erklären – soweit ich es selbst

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