Nekropole (German Edition)
erneut bemerkbar machte. War Kasim in den wenigen Augenblicken noch weiter gealtert, in denen er weggesehen hatte?
»Was auch immer du getan hast«, entfuhr es ihm. »Du hättest es nicht tun sollen!«
»Ich hätte nicht alles tun sollen, um sie wiederzufinden?« Kasim machte eine Kopfbewegung zu Ayla hin. »Es war die einzige Möglichkeit.«
»Nein«, sagte Andrej. »Das war es nicht.« Kasim wollte widersprechen, doch Andrej fuhr rasch und mit leicht erhobener Stimme fort: »Du hast gedacht, es wäre der einzige Weg, um ihre Spur aufzunehmen, aber das stimmt nicht. Du hättest einfach nur mich fragen müssen. Oder Abu Dun.« Er sah die Reaktion in Kasims Augen und verbesserte sich rasch: »Also gut. Mich.«
Tatsächlich bemühte sich Kasim um ein gequältes Lächeln; wenn auch wahrscheinlich nur, weil er das Gefühl hatte, dass Andrej genau das von ihm erwartete. Der Schmerz, der gleich darauf in seinen Augen erschien, war dafür umso größer. Sein Atem roch schlecht, und Andrej musste sich abermals beherrschen, um nicht vor ihm zurückzuweichen.
Kasim bewegte sich wie unter Schmerzen. »Es war allein meine Entscheidung. Ich bedauere nichts … oder vielleicht doch. Aber es war es wert.«
Sie schwiegen. Kasim blickte müde zu Boden. »Und was genau tun wir jetzt hier unten?«, fragte Andrej schließlich, um die Stille nicht übermächtig werden zu lassen.
»Wir sind gleich da.« Kasim deutete mit dem Kopf auf die Steintrümmer in den Schatten, doch Andrej konnte dort nichts erkennen. Vielleicht lauerte etwas dahinter, etwas Unsichtbares, das darauf wartete, dass er …
Andrej brach den Gedanken ab. Die einzigen Gespenster, die es hier unten gab, lebten in seiner eigenen Fantasie.
Wie um es sich selbst zu beweisen, reichte er seine Fackel an Kasim weiter und bedeutete ihm zugleich, ihm zu folgen. Kasim sah nicht begeistert aus (was in seinem momentanen Zustand wohl auch gar nicht möglich gewesen wäre), gehorchte aber und scheuchte mit seinen nunmehr zwei Fackeln die Dunkelheit vor ihnen her. Tatsächlich fanden sie einen dreieckigen Spalt, sogar breiter als erwartet, hinter dem nach nur wenigen Schritten auf der einen Seite ein niedriger Gang weiterführte, wie sie es hier unten schon so oft vorgefunden hatten. Auf der anderen Seite klaffte ein dunkler Abgrund, der einen Meter in die Tiefe gehen, genauso gut aber auch direkt bis ins Herz der Hölle führen mochte.
»Wir warten besser auf die anderen«, sagte Kasim nervös. »Das hier ist der richtige Weg. So hat man ihn mir beschrieben.«
Andrej blieb gehorsam stehen – schon weil er ohnehin nicht weitergegangen wäre – und spähte erneut durch die Öffnung. Er meinte, die erste Stufe einer Treppe zu erkennen, die noch einmal weiter hinabführte, und glaubte, einen sachten Luftzug zu spüren. Doch dass dort unten etwas lauerte, das wusste er sicher.
Ein ganz leises Rascheln erklang, nur für seine feinen Ohren zu hören, und er glaubte, ein vages Huschen zu sehen, erlaubte sich aber nicht einmal, wirklich zu erschrecken, sondern fügte seinem Selbsttadel von gerade noch einen zweiten und schärferen hinzu. Anscheinend begann er sich selbst gerade zu seinem ärgsten Feind zu entwickeln.
»Das ist der richtige Weg«, sagte Clemens, der neben Abu Dun hinter ihm aufgetaucht war, gefolgt von Alis Assassinen, hinter denen wiederum Altieri und die verängstigten Schweizergardisten aufschlossen. Eben auf der Treppe waren der Kardinal und seine letzten Verbündeten mit jeder Stufe ein bisschen mehr zurückgefallen, und Andrej glaubte keinen Moment lang, dass das ein Zufall gewesen war.
Viel mehr interessierte ihn allerdings, wo Ayla war. Nach einem erschrockenen Blick in die Runde gewahrte er sie nur wenige Schritte hinter Clemens und noch immer in Begleitung ihres Bruders. Alis Hand lag auf Aylas Schulter. Die Geste wirkte beschützend, aber Andrej wusste es besser. Alles, was er in Aylas dunklen Augen las, war Angst.
Plötzlich ging ihm auf, dass alle Augen auf ihm ruhten. Hastig wandte er den Blick von Ayla ab. Wie lange hatte er schon so dagestanden und sie angestarrt? Offenbar zu lange. Umso rascher nickte er jetzt und schob sich durch den Spalt. Die anderen folgten ihm einer nach dem anderen.
Die vermeintliche Schutthalde bestand aus den Überresten einer massiven Wand, hinter der eine Halle von enormen Ausmaßen auf sie wartete. Ein kaum drei Handspannen breiter gemauerter Sims führte ein paar Schritte weit an der Wand entlang und ging dann in
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