Nele Paul - Roman
Paul, was gibt’s?«
Ich erzählte ihm von dem Stadtausflug. Von dem schwulen Kunden, dem Escort-Service und Momo, von Neles Ausraster und dem Drogenverdacht. Als ich zu der Stelle kam, wo Nele im Kleiderschrank gelegen hatte, senkte er den Kopf und sah mich über den Brillenrand an.
»Im Schrank?«
Ich nickte.
»Ich glaube, sie hat vor irgendetwas Angst.«
»Und wovor?«
»Weiß ich nicht, aber man versteckt sich doch nur, wenn man Angst hat.«
»Hm.« Er ließ seinen Blick durch den Garten schweifen und kratzte sich am Hals. »Von wie vielen dieser Aussetzer wissen wir jetzt – vier? Und da sie sich an nichts erinnert, könnten es durchaus mehr sein. Es wäre gut zu wissen, was der Trigger ist.«
»Trigger? Sie meinen, wie am Joystick?«
Jetzt war er es, der mich verständnislos ansah. Ich machte eine Faust und rotierte damit über meine Handfläche.
»Wie beim Computerspiel, das Teil mit dem man … egal. Trigger?«
»Der Auslöser«, sagte er. »Irgendwas löst diese Filmrisse aus.«
»Alkohol?«
»Vielleicht«, sagte er. »Es könnte aber auch eine Überreaktion auf ein traumatisches Erlebnis sein, wie zum Beispiel den Tod ihres Vaters. Wusstest du, dass viele Menschen erst krank werden, wenn sie dürfen?
Ich sah ihn bloß an. Er nickte.
»Alleinerziehende, Unternehmer, Künstler, Menschen, die sich nicht krankschreiben lassen können, verschleppen regelmäßig ihre Krankheiten, bis das Kind nicht mehr krank, der Job erledigt oder die Tournee vorbei ist. Erst dann erlauben sie sich, krank zu werden, und dann erwischt es sie richtig, weil sie es zu lange verschleppt oder verdrängt haben. Es wäre möglich, dass das jetzt alles passiert, weil Nele sich zum ersten Mal seit Jahren entspannt. Vielleicht, weil sie wieder in Deutschland ist und sich hier sicherer fühlt, vielleicht, weil sie wieder bei dir und deiner Mutter ist, vielleicht aber auch, weil …« Er holte Luft. »Weil Hans tot ist. Vielleicht hat sie nur so lange durchgehalten, wie er sie brauchte. Was ich damit sagen will, ist, vielleicht wird es schlimmer.«
»Sind aber eine Menge Vielleichts.«
Er sah mich leicht ungehalten an.
»Die menschliche Psyche ist nun mal kompliziert.Eigentlich gibt es nichts Komplizierteres. Niemand kann exakt vorhersagen, wie genau sich welches Trauma auswirkt.«
Ich stöhnte innerlich.
»Wieso denn Trauma? Eben sagten Sie doch, dass sie einfach nur erschöpft ist. Das kann schon sein. Sie wirkt ausgebrannt. Vielleicht braucht sie tatsächlich ein bisschen Ruhe, wer weiß, was sie in den letzten Jahren alles durchgemacht hat. Die Modelbranche ist bestimmt nicht ohne.«
Er nickte.
»Richtig. Schon als sie wegging, hielt ich es nicht für die allerbeste Idee. Diese Mädchen sind alle noch in der Pubertät, sie zweifeln an sich, ihr Körper verändert sich und wird ihnen fremd, aber plötzlich will die ganze Welt genau diesen Körper. Sie sind unsicher, essen zu wenig, beginnen zu rauchen, schlucken Diätpillen und Fettblocker, nehmen Drogen und erleben Sachen, die man in dem Alter nicht erleben sollte. Wenn man dann noch ohne Bezugspersonen in einer fremden Umgebung ist und an den Falschen gerät, prost, Mahlzeit. Weißt du eigentlich, wie viele von diesen jungen Dingern sich das Leben nehmen oder in Suchtkliniken landen?« Er nickte mir zu. »Aber das bedeutet nicht automatisch, dass die Ursache in der nahen Vergangenheit liegt. Vergessen wir nicht, dass ihre Mutter früh gestorben ist.«
Da ging’s wieder los. Die gute alte Kindheit. Jeder, der ein Problem hatte, musste bis zur Geburt durchleuchtet werden. Neulich hatte der Anwalt eines Vergewaltigers sich allen Ernstes vor Gericht auf das Geburtstrauma seines Mandanten berufen. Was kam als Nächstes? Das Trauma der Zeugung?
»Sie glauben also, Nele hat Filmrisse, weil ihre Mutter vor über zwanzig Jahren einen Unfall hatte?«
Er lächelte fein.
»Darum heißt es ja posttraumatisch. Hat sie noch diese Albträume?«
Ich nickte. Er machte eine Da-hast-du-es-Handbewegung. »Die hat sie seit dem Tod ihrer Mutter, richtig?«
Ich versuchte, ruhig zu bleiben. Er beobachtete mich, als wüsste er genau, wie es in mir aussah. Was er wahrscheinlich tat.
»Paul, ich weiß, du magst diese Psychogespräche nicht, aber posttraumatischer Stress hat nun mal keine Halbwertzeit. Wenn ein Kind auf diese Art ein Elternteil verliert, ist das ein Trauma, das ein Kind nicht alleine aufarbeiten sollte, aber soweit ich weiß, hat Nele damals keine professionelle
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