Nele Paul - Roman
Schnaps.«
»Na dann, skål!«
Der eiskalte Schnaps brannte in meiner Kehle. Ich füllte das Glas wieder auf, und mir kam ein Gedanke.
»Glaubst du, dass Nele heimlich trinkt? Ich meine, wäre es möglich?«
Das Klackern verstummte. Mor hob die Augenbrauen und sah mich an.
»Fragst du mich als Expertin?«
»Nein, du trinkst ja nicht heimlich.« Ich runzelte die Stirn. »Oder du bist die schlechteste heimliche Trinkerin der Welt.« Sie musterte mich ausdruckslos. Ich sprach schnell weiter. »Also, wenn Nele heimlich trinken würde, woran würde ich das merken?«
»Lutscht oder kaut sie gerne?«
Ich hob meine Augenbrauen.
»Drops, Lakritze, Kaugummi …«, fügte sie hinzu, ohne eine Miene zu verziehen.
Ich schüttelte den Kopf.
»Dann trinkt sie nicht heimlich«, sagte sie. »Da ihr den halben Tag lang knutscht, würde dir ihre Fahne auffallen.«
»So einfach kann man heimliche Trinker überführen? Mehr knutschen? Das nenne ich doch mal einen sinnvollen Alkoholtest. Genial!«
Ich hob mein Glas, prostete ihr zu und leerte es in einem Zug. Als ich es wieder füllen wollte, nahm Mor es mir weg und schob es außer Reichweite.
»Du verträgst keinen Schnaps, schon vergessen?«
»Ich hatte einen harten Tag«, sagte ich und füllte das andere Glas.
Auch das nahm sie mir weg.
»Erzähl mir davon. Du kannst damit anfangen, was heute Nachmittag mit dir los war, und gleich damit weitermachen, was heute Abend mit dir los ist. Und wenn du mir alles erzählst, gebe ich dir vielleicht einen aus.«
Sie klackerte mit ihren Fingernägeln gegen eines der Schnapsgläser. Ich umriss den Stadtausflug und gab danach das Gespräch mit Nissen so gut ich konnte wieder. Sie hörte sich alles aufmerksam an, bis sie hörte, dass Nissen Nele einen Klinikaufenthalt nahelegte.
»Mit welcher Begründung?«, fragte sie überrascht.
Ich zog die Schultern hoch.
»Er denkt, dass Nele sich und andere gefährdet, und solange wir den Grund nicht wissen, will er sie eben einlochen.« Ich zog eine Grimasse. »Er nennt das ›aus der Verantwortung lassen‹.«
Sie sah mich merkwürdig an.
»Und was glaubt er, ist die Ursache für Neles Verhalten?«
Ich zuckte die Achseln.
»Stress, Verdrängung, keine Ahnung. Vielleicht die Zeit in Amerika, vielleicht der Tod ihres Vaters, vielleicht der Tod ihrer Mutter, vielleicht das Wiedersehen mit ihrem Elternhaus, scheiße, vielleicht ist es ja der Sauerstoff, immerhin hat sie jedes Mal geatmet …«
Mor hörte nicht mehr zu. Ihr Mund war leicht geöffnet, und ihr Blick klebte über dem Fernseher an der Wand. Ichnutzte die Gelegenheit, um einen Schluck Aquavit aus der Flasche zu trinken, und wartete darauf, dass sie mich zurechtwies, doch es erwischte sieben Asiaten, bevor sie ihren Blick von der Wand löste. Sie streckte die Hand nach der Fernbedienung aus, schaltete den Fernseher aus und sah mich ernst an.
»Paul, jetzt hör mir mal zu.«
»Ja.«
»Vielleicht hat er recht.«
»Spinnst du?«, entfuhr es mir.
Sie verpasste mir einen Blick.
»Entschuldige«, sagte ich. »Womit?«
Sie warf einen Blick zur Tür, lauschte einen Augenblick, und dann senkte sie die Stimme, bevor sie weitersprach.
»Was weißt du von dem Unfall von Neles Mutter?«
»Sie fiel die Treppe herunter und brach sich das Genick. Hab gestern noch die Akte gelesen.«
»Und an was erinnerst du dich?«
Ich zuckte die Achseln.
»Wir waren zusammen auf der Beerdigung. Danach war Nele eine Zeit lang stiller.«
»Sie hat fast ein halbes Jahr nicht gesprochen.«
»Echt?« Ich sah sie überrascht an. »Daran erinnere ich mich gar nicht mehr.«
Im selben Moment fiel es mir wieder ein. Wie wir am See gesessen hatten und Nele keine meiner Fragen beantwortet hatte. Wie sie meinem Blick ausgewichen war. Wie selten sie draußen gewesen war.
Mor räusperte sich und sah zur Tür.
»Was ich dir jetzt sage, bleibt aber unter uns.«
Ihr Tonfall war ernst. Ich richtete mich im Sessel auf.
»Erzähl.«
»Die offizielle Unfallversion ist nicht ganz richtig. Charlotte fiel nicht alleine die Treppe runter.«
Ich sah sie verwirrt an.
»Sondern?«
»Als sie fiel, hatte sie Nele auf dem Arm.«
Ich sah sie überrascht an.
»Woher weißt du das?«
»Hans hat es mir erzählt.« Sie warf einen kurzen Blick zu den Schnapsgläsern, ließ aber beide stehen und sah mich wieder an. »Nele schlief oft unten ein, dann musste sie jemand nach oben ins Bett tragen. Da Charlotte es mit der Bandscheibe hatte, war das eigentlich immer Hans’
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