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Nele Paul - Roman

Titel: Nele Paul - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Birbaek
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herumtrug. Und warum nicht? Weil ich Mor sofort gebeichtet hatte, dass ich schuld an ihrem Unfall war. Sie hatte mir das nicht nur ausgeredet, sondern auch verziehen, und meine Schuldgefühle waren sofort verschwunden. Wahrheit war stärker als Lüge. Zumindest für mich. Das bedeutete nicht, dass es für alle anderen auch so seinmusste. Vielleicht funktionierte Verdrängen und Verschleiern ja auch super. Prima. Lügen wir doch alle ’ne Runde. Gott, die Gedanken flatterten mir durchs Hirn wie aufgescheuchte Hühner. Was für ein beschissener Tag.
    »Vielleicht war es doch nicht so schlau, Nele damals zu belügen, oder? Wer weiß, was sie sich die ganze Zeit für Gedanken macht. Mit der Wahrheit wäre sie vielleicht besser gefahren.«
    Mor sah mich düster an.
    »So etwas kannst du nur behaupten, weil du selber keine Kinder hast.«
    Vielleicht hatte sie recht. Vielleicht war ich nur sauer, weil sie mir das verheimlicht hatte. Den ganzen verdammten Tag hörte ich mir jetzt schon an, dass andere Menschen etwas über Nele wussten, das ich nicht wusste. Es sollte genau andersherum sein. Was für ein Tag. Ich musste dringend ins Bett und hundert Jahre schlafen.
    Wie aufs Stichwort blinkte mein Handy. Ein Foto von Nele mit herausgestreckter Zunge erschien auf dem Display. Sie musste sich fotografiert und es einprogrammiert haben, ohne dass ich es merkte. Vielleicht gab es noch irgendwo im Landkreis einen Menschen, der nicht an meinem Handy herumfummelte.
    »Ja, Schatzi?«
    Scheißschnäpse.
    »Ich schlafe schon halb«, murmelte sie schläfrig.
    »Ich komme.«
    Ich unterbrach. Mor schüttelte den Kopf.
    »Lieber Himmel, sie liegt da oben und ruft hier unten an? Kein Wunder, dass wir Atomkraftwerke brauchen. Na, dann los. Ach, übrigens, als sie heute oben in der Villa war, habe ich ihre Sachen durchsucht.«
    Ich war gerade dabei, mich aus dem Sessel zu stemmen, und verharrte auf halber Strecke.
    »Was?«
    Sie sah mich unschuldig an.
    »Ich dachte, vielleicht nimmt sie Medikamente. Du weißt, ich kenne ja alle Nebenwirkungen und Wechselwirkungen mit Alkohol.«
    »Du kannst doch nicht einfach …«
    »Sie war fast ein Jahrzehnt in den USA«, unterbrach sie mich, »dem Mekka der Tablettenabhängigen. Da drüben verschreibt man Schulkindern Prozac. Was glaubst du, verschreiben die den Erwachsenen?«
    »Und, was gefunden?«
    »Nein. Ich wollte nur, dass du es weißt.«
    »Toll.« Ich ließ mich wieder in den Sessel plumpsen und warf einen Blick zur Schnapsflasche. »Übrigens sind ihre Blutwerte auch in Ordnung.«
    Sie runzelte die Stirn.
    »Welche Blutwerte?«
    »Nissen hat sie untersucht. Sie ist kerngesund.«
    Sie musterte mich.
    »Wieso erzählst du mir so was nicht?«
    »Hab ich doch.« Ich runzelte die Stirn. »Oder …? Hab ich nicht? Scheiße, was weiß ich …« Ich streckte meine Hand aus in Richtung Schnapsglas. »Eins schwör ich dir: Und wenn ich hundert Jahre alt werde, diesen Tag vergesse ich bestimmt nicht.«
    Mor schob mir das Glas entgegen. Ich nahm die Flasche und schenkte mir ein.
    »Das ist aber dein Letzter.«
    »Tag? Na dann, skål!«
    »Mach nicht solche Witze«, sagte sie.
    Ich kippte das Zeug runter, stellte das Glas ab, umarmte Mor und drückte ihr einen fetten Kuss auf die Wange.
    »Meine Lieblingsmutti.«
    Sie verzog das Gesicht und hielt meine Hand fest, als ich mich aufrichtete.
    »Willst du seine Nummer?«
    Ich zuckte die Schultern.
    »Weiß nicht.«
    »Schatz, du weißt, dass ich mich nie zwischen euch stellen würde. Es ist völlig in Ordnung für mich, wenn ihr euch trefft. Eigentlich warte ich seit Jahren darauf, dass du mich fragst.«
    Da saß sie. Eine Frau in einem Trainingsanzug. Die mich liebte. Und die mich immer noch belog. Ich wusste, dass es sie verunsichern würde, wenn ich Kontakt zu ihm hatte. Es würde sie an ein anderes Leben erinnern. Ein Leben als Nichtbehinderte. Ein Leben als attraktive Frau. Ein Leben, das vorbei war. Und dennoch, würde sie mich jederzeit unterstützen, wenn ich Kontakt zu meinen leiblichen Vater haben wollte. Mütter.
    »Ich überleg’s mir.« Ich gab ihr einen Schmatzer auf die Wange. »Gute Nacht.«
    »Schaf schön, Schatz.«
    An der Tür warf ich einen Blick zurück. Die Nadeln klackerten wieder, aber Mor starrte auf einen imaginären Fleck oberhalb des Fernsehers. Der Tag gab jedem zu denken.

    Als ich ins Zimmer kam, sah ich neben dem Bett den bunten Fotokarton aus der Villa. Er war offen, Fotos lagen auf dem Boden. Im schwachen Licht erkannte ich

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