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Nele Paul - Roman

Titel: Nele Paul - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Birbaek
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Aufgabe, aber an dem Tag, an dem sie starb, ist er vor dem Fernseher eingeschlafen. Er wurde erst wach, als Nele schrie. Als er in den Flur kam, lagen beide am Fuß der Treppe, Charlotte war tot, Nele hatte keinen Kratzer. Als Charlotte fiel, muss sie versucht haben, Nele zu schützen.« Ihre Augen wurden feucht. »Ich weiß nicht, wie oft ich dich anschließend unsere Treppe hochgetragen habe. Jedes Mal habe ich an Charlotte gedacht, und ich hatte Angst, dich zu verlieren.«
    »Warum hast du mir das nie erzählt?«
    »Ich habe Hans versprochen, es keinem zu erzählen.« Sie blinzelte ein paarmal und atmete tief durch. »Er hat sich sein Leben lang Vorwürfe gemacht, dass er an dem Abend eingeschlafen ist.«
    Ich wurde nicht schlau draus.
    »Verstehe ich nicht. Wieso braucht man da eine offizielle Version?«
    Mor sah mich dunkel an.
    »Um Nele zu schützen.«
    »Wieso? Sie kann doch nichts dafür.«
    »Woher willst du das wissen? Es muss einen Grund gehabt haben, dass Charlotte stürzte. Vielleicht hat Nele sich nur schlafend gestellt, vielleicht wollte sie noch nicht ins Bett und hat herumgezappelt, vielleicht hat sie Charlotte irgendwie abgelenkt, und auch wenn nicht, sie war dabei, als ihre Mutter starb. Einem Kind fällt es schwer, einensolchen Verlust zu begreifen, und wenn Kinder etwas nicht verstehen, stellen sie nicht die Erwachsenen infrage, sondern sich selbst. Hans hatte Angst, dass Nele sich ihr Leben lang die Schuld an Charlottes Tod gibt, darum lag Nele offiziell in ihrem Bett und schlief.«
    Ich sah sie skeptisch an.
    »Und das hat funktioniert?« Ich rechnete kurz nach. »Sie war damals fünf. Lässt man sich da wirklich noch so leicht manipulieren?«
    Mor lächelte schwach.
    »Was glaubst du, wie oft ich dir eine kindgerechte Version von etwas erzählt habe, das du noch nicht wissen solltest. Alle Eltern tun das. Wir schwindeln zu euerm Besten, und es funktioniert so gut wie immer.«
    Ich dachte drüber nach und trank dabei einen weiteren Schluck aus der Flasche.
    »Trink nicht aus der Flasche«, sagte Mor automatisch.
    Ich stellte die Flasche ab.
    »Ich habe manchmal gemerkt, wenn du mich anschwindelst.«
    »Mag sein«, gab sie zu. »Aber du wusstest nie wieso, und deswegen hast du dich nie damit auseinandersetzen müssen, dass meine Rente nicht anerkannt wurde, wir eine Zeit lang die Raten für das Haus nicht zahlen konnten und die Bank uns vor die Tür setzen wollte.« Sie sah mich tiefgründig an. »Oder dass dein Vater eines Tages wieder vor der Tür stand.«
    Mein Herz blieb stehen.
    »Er war noch mal hier?«, flüsterte ich. »Wann?«
    »Als du zehn warst.«
    Ich sah sie entgeistert an.
    »Und das erzählst du mir heute?«
    »Er war betrunken und abgebrannt«, sagte sie und musterte mich unerschütterlich. »Ich hatte Angst, dass er sich einquartiert, um ein bisschen Vater, Mutter, Kind zuspielen, und dann wieder verschwindet, wenn er sich erholt hat. Du weißt, wie es beim letzten Mal lief.« Sie musterte mich düster, dann wurde ihr Blick weicher. »Wenn du ihn sehen willst, brauchst du es nur zu sagen. Ich gebe dir seine Nummer, und ihr könnt euch treffen.« Sie hob einen Finger. »Aber das entscheidest du, nicht er.«
    Ich versuchte, das alles auf die Reihe zu bekommen, und griff wieder nach der Flasche. Mor schlug meine Hand weg und schob mir ein Glas rüber. Ich schenkte mir ein und kippte den Schnaps runter. Als mein Vater damals verschwand, hatte ich mich lange Zeit gefragt, ob er meinetwegen weggegangen war. Mor hatte er ja geliebt, also blieb nur ein Grund übrig. Mor hatte mir immer wieder erklärt, dass es nicht an mir, sondern an ihm lag, doch es hatte lange gedauert, bis ich ihr glaubte. Und vielleicht glaubte ich es bis heute nicht ganz. Kinder suchten die Schuld bei sich selbst. Gab Nele sich die Schuld am Tod ihrer Mutter? War das der wahre Grund für ihre Albträume? Mir fiel der Tag ein, als ich Mor zum ersten Mal ohne Bein sah. Der Schock, den es in mir auslöste, dass meine unbesiegbare Mutter plötzlich im Krankenhausbett vor mir lag und das Laken dort, wo ihr rechtes Bein sich befinden sollte, flach auf der Matratze lag.
    Am selben Morgen hatten wir uns gestritten, weil ich keine Hausaufgaben für die Schule gemacht hatte, und ich hatte mir gewünscht, dass sie stirbt. Dieser Moment im Krankenhaus hatte mir das Wissen eingebrannt, dass jederzeit etwas Schlimmes passieren konnte, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass ich seitdem latente Schuldgefühle mit mir

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