Nele Paul - Roman
bringen. Die Container wurden geliefert. Wir hielten die Fahne der Entschlossenheit noch eine kleine Stunde aufrecht, dann flog sie in die Ecke. Wir verriegelten die Fenster provisorisch und verschlossen das Haus. Bevor wir den Heimweg antraten, warf ich noch einen Blick auf Nele. Sie ging mit dem Fotokarton in der Hand neben Anita her und plauderte vergnügt.
Ich machte mir Gedanken um die Werkzeuge. Wir hattendie Fenster notdürftig zugeklebt, doch das war nichts, was einen hormongesteuerten Getto Gangsta aufhalten könnte. Ich nahm mir vor, Rokko einzuschalten, sollte morgen auch nur ein einziges Werkzeug fehlen. Mit diesem Gedanken beendete ich gut gelaunt den Arbeitstag.
Voll war kein Ausdruck. Wir standen auf der Felsplatte und schauten zu dem Chaos am Sandstrand rüber, wo jedes Fleckchen von sonnenbadenden Eltern, knutschenden Jugendlichen und spielenden Kindern belagert war. Bruchstückhafte Schreie und das Wummern der Gettoblaster klangen bis zu uns rüber. Auf dieser Seite des Sees waren dagegen nur ein paar Angler, und in den Klippen lagen ein paar vereinzelte Pärchen auf ihren Handtüchern. Eines davon war FKK, ich hoffte, Rokko würde irgendwie drüber wegkommen.
Wir eroberten eine erstklassige Ecke mit Blick über den See, und bevor ich mich ausziehen konnte, stürzten sich die Mädchen bereits von der Klippe. Zu dieser Tageszeit sah man jeden Felsvorsprung im Wasser, und beide klatschten unten ins sichere Nass. Dennoch schlug mein Herz schneller, und ich blieb an der Kante stehen, bis ihre Köpfe wieder auftauchten. Ich winkte lässig runter, Rokko und ich zogen uns bis auf die Badehose aus, gingen gemächlich zur Klippenkante, warteten, bis die Mädchen unten pfiffen und johlten – dann sprangen auch wir. Ich tauchte ins kalte Wasser, und wäre ich in diesem Augenblick gestorben, man hätte eine lächelnde Leiche aus dem Wasser gefischt. Wir vier am See. Ich kam mir vor wie in einem alten Film, den ich als Kind geliebt hatte und nach neun Jahren endlich wieder anschauen konnte.
Als ich an die Wasseroberfläche kam, planschten Anita und Nele übermütig herum. Rokko blieb in der Nähe und lauerte auf seine Chance, ich dagegen schwamm mit ruhigen Zügen auf den See hinaus. Das Wasser war unglaublich klarund frisch und duftete nach Süßwasser. Ich tauchte durch die Schatten von Bäumen. Das Sonnenlicht stach durch die einzelnen Äste und brach sich flimmernd auf dem Wasser. Die Wellen, die ich erzeugte, glitzerten. Es war so unglaublich schön. Ich musste lachen. Zwei Libellen kamen gucken, was los war. Ich bespritzte sie mit Wasser, schwamm weiter und spürte, wie das Wasser mich langsam abkühlte. Auch im Hochsommer lag die Wassertemperatur in der Mitte des Sees selten über siebzehn Grad, und ein Hauptgrund für Badeunfälle waren von jeher unmotivierte Versuche gewesen, über den See zu schwimmen. Wenn man merkte, dass man auskühlte, war man bereits zu weit draußen und erledigt. Ich war nicht der beste Schwimmer und der See nicht ohne, aber dafür war ich motiviert.
Als meine Arme müde wurden, war der Kunststrand näher als die Grillstelle. Ich schwamm weiter, redete mir ein, dass alles kein Problem sei, doch als ich am Kunststrand ankam, pfiff ich auf dem letzten Loch, und die letzten Meter zum Strand paddelte ich wie ein Hund. Ein Schlauchboot mit kreischenden Teenagern rammte mich und drückte mich unter Wasser. Fast wäre ich fünf Meter vom Strand für immer untergegangen. Niemand schien es zu merken. Als mir die Luft ausging, hatte ich endlich Boden unter den Füßen. Ich stieß mich ab und durchbrach die Wasseroberfläche mit dem ersten Atemzug. Zwischen den fröhlichen Badegästen hindurch an Land zu gehen war bizarr. Auf weichen Beinen eierte ich zwischen Ballspielern und Drachensteigern her, bis ich endlich ein freies Stück Sand fand. Ich legte mich der Länge nach hin. Eltern schrien ihre Kinder an, die andere Kinder anschrien, die nach ihren Eltern schrien. Jugendliche spielten Musik und nervende Holzballspiele. Jemand verfolgte jemanden. Schreiend. Jemand fing jemanden und schrie. Jemand lief schreiend wieder los. Jemand nahm schreiend die Verfolgung auf. Ein Königreich für einen Mute-Knopf.
Ich versuchte, ruhig zu atmen, und schaute zu den Klippen rüber. Von hier aus war Nele nur eine Spielfigur, aber ich wusste, dass dies eine Momentaufnahme und keine Bedeutungsperspektive war. Ich meinte sogar, November oben auf der Klippe erkennen zu können, wurde aber abgelenkt,
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