Nelson, das Weihnachtskaetzchen
Marie, die ihn mit Köstlichkeiten verwöhnte und ihn anschließend in ihr warmes Bett ließ. Was waren das nur für paradiesische Zeiten gewesen, als er noch bei Marie gelebt hatte! Das wurde ihm erst jetzt bewusst.
Er hatte Hunger. Immer hatte er Hunger. Der war inzwischen sein ständiger Begleiter. Und die Kälte machte ihm zu schaffen. Nelson hatte gehofft, der alte Mann würde ihn bei sich aufnehmen. Oder ihn zumindest am Ofen sitzen lassen, damit er sich gegen die schlimmste Kälte schützen konnte. Aber das war wohl ein Irrtum gewesen. Am Ende hatte er ihn wieder fortgejagt, wie er es schon zuvor getan hatte, wenn es Abend wurde. Es gab kein neues Zuhause für ihn.
Nelson hockte hinter seinem Lüftungsgitter und blickte hinaus auf den Bürgersteig. Es war tiefe Nacht, und kaum ein Mensch war unterwegs. Gegenüber leuchtete der große Christbaum, der neben dem Kettenkarussell aufgebaut war. Sein strahlender Stern überragte den gesamten Weihnachtsmarkt. Auch an den Giebeln der Häuschen leuchteten kleine Lichter an den Girlanden aus Tannenzweigen. Alles sah so einladend aus. Aber Nelson wusste, dass nachts keine Menschenseele auf dem Markt war. Es sah eben nur so aus als ob.
Plötzlich nahm er eine Bewegung wahr. Er hob den Kopf. Oben auf einer Querstrebe hockten zwei Tauben. Sie hatten das Fell aufgeplustert und die Köpfe unter die Flügel gesteckt. Dicht aneinandergedrängt harrten sie dort oben aus. Nelson richtete sich auf. Er fixierte die beiden Vögel. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Fressen. Endlich fressen. Er suchte nach einem Weg, zu seiner Beute hinaufzugelangen. Aber es gab nur den aalglatten Betonpfeiler, sonst war da nichts. Wie lange er sich auch umsah, es gab keine Möglichkeit hinaufzuklettern.
Sehnsuchtsvoll sah er wieder zu den Tauben. Jetzt würde er unmöglich schlafen können. Nicht, wenn etwas zu essen nur ein paar Meter entfernt und dennoch unerreichbar war. Er zwängte sich durch die Gitterstäbe und lief zum Weihnachtsmarkt. Dort angelangt kroch er unter dem Absperrgitter hindurch und tigerte durch die menschenleeren Gänge. Zielstrebig steuerte er die Hütte des alten Mannes an. Doch natürlich war alles verschlossen. Er umrundete den Stand und kratzte mit seinem Pfötchen an der Tür, doch nichts passierte. Sie blieb verschlossen.
Eine Bewegung im Augenwinkel ließ ihn aufmerken. Er erstarrte, sein Körper geriet unter Spannung. Lautlos drehte er sich um und spähte dorthin, wo er die Bewegung gesehen hatte. Da waren Ratten. Sie tummelten sich hinter dem Glühweinstand. Und zwar dort, wo tagsüber die Mülleimer gestanden hatten. Nelson fixierte sie. Die Ratten sahen zwar nicht aus, als wären sie eine leichte Beute für ihn. Eher das Gegenteil. Aber er konnte nicht widerstehen. Es war wie ein Zwang, er musste sich einfach einem Kampf stellen. Sollte er den Sieg davontragen, hätte er für heute genug zu essen.
Geschmeidig schlich er von einem Häuschen zum nächsten. Lautes Quieken war zu hören, dann Geraschel, und schließlich entfernten sich die Geräusche. Als Nelson den Glühweinstand erreicht hatte, waren die Ratten verschwunden. Enttäuscht blickte er sich um. Da waren ein paar zerrissene Pommesschälchen und ein Strohhalm, der in der Mitte durchgeknickt war, ansonsten war alles leer.
Ein kalter Wind erfasste ihn. Er musste Schutz vor der Kälte suchen. Fröstelnd machte er sich auf den Weg. Inzwischen hatte er die Hoffnung aufgegeben, dass Marie auftauchte und ihn wieder mit zu sich nach Hause nahm. Er musste den Tatsachen ins Auge sehen. Offenbar war er ihr inzwischen egal. Bestimmt hatte sie ein neues Kätzchen, das sie fütterte und kraulte, und an ihn dachte sie gar nicht mehr. Besser, er fand sich mit seiner Situation ab.
Unverrichteter Dinge machte er sich auf den Weg zu seinem kalten und ungemütlichen Lüftungsschacht. Seinem neuen Zuhause.
8
Ein weiterer Tag auf dem Weihnachtsmarkt. Arthur Hummel klappte seine Fensterläden auf, zog die Markise heraus, schaltete alle Lichter ein, rückte die Krippenfiguren zurecht und warf dann abschließend einen kritischen Blick auf seine Auslagen. Alles sah perfekt aus.
Er nahm eine der Marienfiguren ganz vorsichtig in seine schwieligen Hände. Sie war eines seiner Meisterwerke, an ihr hatte er besonders lange gearbeitet. Es war ein hartes Ringen gewesen, doch am Ende es war ihm gelungen, eine Aura der Reinheit und Würde und Unberührbarkeit zu erschaffen, wie sie nur wenige seiner Marienfiguren besaßen. Fast
Weitere Kostenlose Bücher