Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nelson, das Weihnachtskaetzchen

Nelson, das Weihnachtskaetzchen

Titel: Nelson, das Weihnachtskaetzchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Steinbach
Vom Netzwerk:
gegeben.

12
    Anna Brandt war allein zu Hause. Max war nach der Schule zu einem Freund gegangen, und Laura besuchte die Jugendtheaterwerkstatt, in der sie für die Weihnachtsaufführung probten. Anna wusste immer noch nicht, welches Stück gegeben wurde und welche Rolle Laura darin bekommen hatte. Seit dem Streit am Sonntag ging ihre Tochter ihr aus dem Weg. Anna nahm sich vor, sie beim Abendessen danach zu fragen. Es war doch albern, nicht mehr miteinander zu reden.
    Normalerweise kamen die Kinder aus der Schule, kurz nachdem Anna aus dem Büro zurück war. Allein zu Hause war sie nur selten, und so genoss sie die ungewohnte Ruhe. Draußen war es dämmrig, der Himmel hatte sich zugezogen, und wieder einmal schien es, als läge Schnee in der Luft. Vielleicht würden sie ja heute tatsächlich den ersten Schnee des Jahres bekommen.
    Anna faltete Tischdecken zusammen, die sie gebügelt hatte. Dann brachte sie die Decken ins Wohnzimmer, um sie dort in die Kommode zu legen. Dabei fiel ihr Blick auf den Adventskranz. Drei der Kerzen waren noch unberührt, nur aus der vierten ragte ein schwarzer Docht. Das Singen und Musizieren am Adventskranz war am vergangenen Sonntag zwar ausgefallen, aber Anna hatte die erste Kerze dennoch angezündet, als sie sich den Tatort angesehen hatten. »Soll ich dir ein Adventslied vorsingen?«, hatte Klaus mit seinem charmanten Lächeln gefragt. »Ich könnte auch versuchen, etwas auf der Blockflöte zu spielen.« Da hatte Anna lachen müssen. »Du Spinner«, hatte sie gesagt. »Ich mache das doch alles nur für die Kinder.« Im Grunde stimmte das auch: Sie machte es für die Kinder. Trotzdem war es schön gewesen, dass der Kranz wenigstens bei ihrem Fernsehabend im Hintergrund gebrannt hatte.
    Anna legte die Tischdecken in die Kommode. Ihre Gedanken wanderten zum Weihnachtsmarkt am Roten Rathaus, genauer: zum Stand mit den Krippenfiguren, zu dem Marie sie zerren wollte. Seit der Begegnung dort war sie innerlich aufgewühlt. Sie hatte Klaus noch nichts davon erzählt, aber so wie er sie zwischendurch ansah, ahnte er irgendetwas. Das war typisch für Klaus: Er drängte sich nicht auf, sondern ließ sie in Ruhe, bis sie selbst so weit war, mit ihm zu reden. Und dafür liebte sie ihn.
    Sie brauchte Zeit zum Nachdenken. Musste erst einmal ihre Gedanken sortieren. Sie ging zum Wohnzimmerschrank und öffnete die unterste Tür. Sie hatte ihr Versteck mit Bedacht gewählt. Die Kiste lag hinter Urlaubssouvenirs und Rommékarten verborgen. In diesem Schrank würden die Kinder nicht neugierig herumwühlen, das wusste sie. Sie zog die Zigarrenkiste hervor, trug sie in die Küche und stellte sie auf den Tisch, wo sie erst einmal ungeöffnet stehen blieb. Anna hatte etwas Angst davor, sie zu öffnen. Sie kochte sich einen Ingwertee, und während das Wasser langsam heiß wurde, blickte sie aus dem Fenster. In den Nachbargärten leuchtete der Weihnachtsschmuck in der beginnenden Dämmerung. Und plötzlich waren da Schneeflocken in der Luft. Nur einige wenige, die im Wind herumwirbelten, auf und ab tanzten und schließlich sacht auf die Straße niederfielen. Aber trotzdem: Es schneite. Wie schön. Anna goss den Tee auf und setzte sich an den Küchentisch.
    Dann holte sie tief Luft und öffnete die Zigarrenkiste. Sie war randvoll mit Fotos. Obenauf lag ein Kinderfoto von ihr, eins mit Schultüte und Zahnlücke. Da war sie sechs gewesen, ein freches und vorlautes Kind. Sie hatte eine Menge Lehrer auf die Palme gebracht mit ihrer vorwitzigen Art. Wer würde das heute noch bei ihr vermuten? Sie nahm das Foto und legte es zur Seite. Weitere Kinderfotos kamen zum Vorschein, alle aus der Grundschulzeit. Anna griff jetzt tief in die Kiste hinein und nahm einen ganzen Stapel heraus. Die Fotos waren nicht sortiert, sondern wahllos zusammengewürfelt. Sie schob sie auf dem Tisch auseinander. Das ganze Panorama ihrer Herkunft entfaltete sich.
    Da war ein Bild von ihren Eltern an deren vierzigstem Hochzeitstag. Zwei Menschen, die nach all den Jahren immer noch glücklich miteinander waren. Wer konnte das schon von sich sagen? Es war etwas Besonderes gewesen, was ihre Eltern miteinander verband. Bis zum Tod ihrer Mutter hatten die beiden sich geliebt.
    Sie entdeckte ein Bild von ihrem Vater in seinem neuen Auto, einem knallgelben Ford Taunus. Irgendwann in den Siebzigern musste das gewesen sein. Er saß hinterm Steuer und grinste stolz. Es gab Fotos von der Nordsee, von einem der seltenen Urlaube, den sie sich leisten

Weitere Kostenlose Bücher