Nelson, das Weihnachtskaetzchen
kleinen Unfall gestört wurden.«
Anna dachte an ihren Vater, den sie auf dem Weihnachtsmarkt gesehen hatte. An all die schmerzlichen Erinnerungen, die sie am Nachmittag heraufbeschworen hatte. Doch sie hatte keine Lust, darüber zu reden. Nicht jetzt, nachdem Klaus ihr vorgeworfen hatte, sie würde die Kinder betüddeln.
»Ach, nichts. Es ging nur um Marie und den kleinen Nelson.«
»Gibt es denn Neuigkeiten? Haben die Grünbergs irgendeine Spur?«
»Nein, gar nichts. Wie es aussieht, ist er wohl überfahren worden.« Sie stand auf und reckte sich. »Ich bin müde. Kommst du auch?«
Er deutete zum Fernseher. »Ich seh mir noch die Spätnachrichten an.«
»Gut. Dann wünsche ich schon mal Gute Nacht.«
Sie gab ihm einen Kuss und verließ das Wohnzimmer. Auf dem Weg ins Bad dachte sie an ihren Vater. Und an all die Lügen, die sie Laura und Max erzählt hatte.
13
Nelson, der sich nachts gern auf dem ausgestorbenen Weihnachtsmarkt herumtrieb, hatte sich heute in Arthurs Hütte zurückgezogen. Draußen herrschte nämlich eine schreckliche Kälte. Nelson hatte sich quer über das kleine Öfchen gelegt, das auch nachts ein bisschen Wärme abstrahlte. Dennoch fror er.
Der Kater schloss die Augen und versuchte zu schlafen. Vor der Hütte war plötzlich Geraschel zu hören, dann ein Fiepen. Nelson war augenblicklich hellwach. Die Kälte war vergessen. Er lauschte dem Treiben. Schließlich sprang er lautlos vom Ofen und lugte durch das Loch in der Rückwand. Es war nichts zu erkennen. Auf leisen Pfoten schlich er hinaus und umrundete den Stand.
Die Geräusche hatten sich entfernt, waren jetzt hinter dem Glühweinstand. Nelson spähte hinüber. Ratten. Da waren sie wieder. Er hatte sie schon ein paar Mal beobachtet, doch nie hatte er sie schnappen können. Immer waren sie ganz plötzlich verschwunden gewesen. Die Bewegungen der vielen kleinen Körper zogen ihn auch diesmal magisch an.
Er war auf der Jagd. Jeder einzelne Muskel in seinem kleinen Körper war angespannt. Lautlos schlich er sich heran, bereit, jeden Moment loszustürmen. Doch wieder war er zu spät. Die Ratten wieselten davon, noch bevor er nah genug war, um sie im Sprint einzuholen.
Nelson sah ihnen enttäuscht hinterher. Dann umrundete er den Glühweinstand. Müll lag herum. Offenbar hatten die Ratten etwas zu Essen gesucht. Er trat näher – und plötzlich war ein hoher, kehliger Laut zu hören. Etwas Bösartiges lag darin. Nelson fuhr herum.
Eine Ratte stand hinter ihm, ein riesengroßes und fettes Geschöpf, beinahe so groß wie er. Sie kam rasch näher, und im nächsten Moment standen sie sich gegenüber. Nelson wich nicht zurück. Er war bereit für den Kampf. Sein Fell sträubte sich, und er fauchte furchterregend. Seinen Gegner ließ er dabei nicht aus den Augen.
Die fette Ratte baute sich vor ihm auf. Kleine dunkle Knopfaugen fixierten Nelson. Er hatte nicht den Hauch einer Chance gegen das Tier. Es war eine mit allen Wassern gewaschene Kanalratte, die schon so manchen Feind überlebt hatte. Aber Flucht kam für ihn nicht infrage. Er wollte kämpfen.
Er fauchte nochmals und zeigte seine Krallen. Die Ratte ging in Angriffsposition, und Nelson spürte: Es würde ein Kampf auf Leben und Tod werden. Doch dann passierte etwas Unerwartetes. Im letzten Moment drehte die Ratte ab und sauste blitzschnell durch einen Gullydeckel. Nelson blieb allein zurück. Er trieb sich noch eine Weile in der Nähe des Glühweinstands herum und wartete, ob das Vieh zurückkehrte. Immer wieder sah er zu dem Gully hinüber, doch dann wurde es ihm zu kalt. Er kehrte zurück in Arthurs Hütte und machte es sich auf dem Öfchen bequem. Hier musste er keine Angst haben. Langsam schloss er die Augen.
Plötzlich schlich sich Marie wieder in seine Gedanken. Er dachte immer noch an sie, natürlich. Aber auch Arthur war ihm ans Herz gewachsen. Er mochte diesen alten Mann, der jeden Tag kleine Schälchen mit Köstlichkeiten mitbrachte. Nelson musste weder im Abfall wühlen, noch war er gezwungen, Weißbrot oder kalte Pommes zu essen. Er lebte wie im Paradies. Und er hatte seine Freiheiten.
Eine Weile lauschte er noch auf die Rückkehr der fetten Ratte, doch dann schlummerte er ein. Er träumte, wie Marie auf einer Wiese stand und ihm zuwinkte. Doch dann entfernte sie sich immer weiter, bis sie schließlich fort war.
14
Arthur mochte die vormittägliche Leere, wenn noch keine Besucher in den Gassen unterwegs waren. Es war alles ganz still und ruhig. Nur hier und da waren
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