Nelson, das Weihnachtskaetzchen
Anna ins Gesicht. »Der will doch gar nicht dein dämliches und langweiliges Weihnachten feiern. Und ich kann’s verstehen. Du bist schuld, dass Opa nicht kommen will.«
Der Knall der Backpfeife donnerte durchs Zimmer. Danach herrschte Totenstille. Fassungslos starrte Anna ihre Tochter an. Noch nie hatte sie ihr Kind geschlagen.
Lauras Augen füllten sich mit Tränen.
»Raus hier!«, rief sie erstickt.
»Laura, bitte. Es tut mir leid …«
»Raus hier! Geh endlich!«
Anna stolperte zurück. Sie war bereits in der Tür. Aber sie konnte doch nicht einfach so gehen. Was hatte sie nur getan?
»Raus«, schrie Laura wieder. »Ich hasse dich!«
Anna gab auf. Erschrocken über sich selbst zog sie die Tür hinter sich zu. Sie hörte Laura in ihrem Zimmer weinen. Mechanisch drehte sie sich um und ging die Treppe herunter.
Im Wohnzimmer setzte sie sich aufs Sofa. Der Fernseher lief immer noch. Die Nachrichten waren vorüber, jetzt war Günther Jauch auf dem Bildschirm zu sehen: »Wer wird Millionär?«
Klaus blickte zu ihr herüber. Sie konnte seinen Blick nicht deuten, doch sie hatte das vage Gefühl, dass sie sich jetzt besser nicht bei ihm ausweinen sollte. Denn auch ohne von dieser Ohrfeige zu wissen, hielt Klaus im Moment nicht viel von ihren Erziehungsmethoden. Das wusste sie genau.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Ja, natürlich. Sie wird sich wieder einkriegen. Ich denke, sie ist noch zu jung, um Weihnachten mit Freunden zu feiern.«
»Das finde ich auch.«
Anna nahm sich einen Kugelschreiber und eine Zeitschrift und tat so, als löse sie ein Sudoku-Rätsel. Sie würde es nicht ertragen, wenn sich jetzt auch noch Klaus gegen sie wenden würde. Nach einer Weile legte sie die Zeitschrift wieder beiseite.
»Ich gehe noch mal kurz zu den Grünbergs rüber«, sagte sie und stand auf.
»Jetzt? Was hast du denn vor?«
»Dorothee wollte mir noch ein paar Plätzchenrezepte geben. Sie meinte, ich soll vorbeikommen, wenn die Kinder schlafen. Dann können wir dabei einen Likör trinken.«
»Also gut. Bis später. Wahrscheinlich bin ich dann aber schon im Bett.«
Anna floh förmlich aus dem Haus. Draußen genoss sie die kalte Luft. Sie massierte sich die Schläfen. Eigentlich hatte sie nur geplant, ein bisschen an der frischen Luft spazieren zu gehen. Doch nun entdeckte sie, dass ihr Wagen noch auf der Straße vor dem Haus stand. Sie hatte vergessen, ihn in die Garage zu fahren. Kurz entschlossen holte sie den Schlüssel aus ihrer Manteltasche und setzte sich hinters Steuer.
Es fühlte sich gut an, durch die Nacht zu fahren. Auf der Stadtautobahn beschleunigte sie, es war beinahe wie ein Rausch. Alles fiel von ihr ab.
Irgendwann erreichte sie die Innenstadtbezirke. Das war gar nicht ihr Plan gewesen. Sie hatte sich einfach treiben lassen wollen, ganz ohne Ziel. Doch nun war sie plötzlich im Tiergartentunnel gelandet, nur ein paar Minuten vom Alexanderplatz entfernt. Sie dachte an Nelson. Die Suche nach dem Kater ließ sie nicht los. Bei Licht betrachtet war er natürlich das kleinste Problem, das sie hatte. Trotzdem maß sie ihm jetzt besondere Bedeutung bei. Als würde sich alles andere schon irgendwie lösen, wenn sie nur Nelson wiederfände. Wenn sie nur dieses eine Versprechen einhalten könnte, dann würde alles andere schon gut werden.
Sie setzte den Blinker und ordnete sich ein. Vielleicht hatte sie ja Glück. Vielleicht war Nelson klüger, als sie glaubten, und er verkroch sich tagsüber in einem Gebäude. Solange er nur nachts auf Futtersuche ging, wenn die gefährlichen Straßen nicht so stark befahren waren, bestand eine Chance, dass er noch lebte. Einen Versuch wäre es wert.
Sie würde nicht ruhen, bis sie Nelson gefunden hatte, das schwor sie sich. Sie würde ihn Marie zurückbringen. Tot oder lebendig.
21
Nachdem der Schnee schon seit Tagen in der Luft gelegen hatte, begann es am darauffolgenden Nachmittag richtig zu schneien. Der Himmel verdunkelte sich, und zuerst trudelten nur einzelne Flocken durch die Luft, doch dann war es, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, und im nächsten Moment herrschte auf dem Weihnachtsmarkt ein dichtes Schneegestöber.
Nelson betrachtete das Spektakel eine Weile von seinem Kissen am Öfchen aus, doch dann sprang er auf Arthurs Schoß und verkroch sich unter dessen Steppweste. Ihn schien das Wetter nicht sonderlich zu begeistern.
Die Kinder auf dem Weihnachtsmarkt waren völlig aus dem Häuschen. Sie hüpften wild herum und streckten immer wieder
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