Nelson DeMille
entsprechenden Grußkarten geschickt. Ich hatte sie nach London eingeladen, aber wie viele aktive Senioren heutzutage war sie zu beschäftigt. Dabei verreiste sie oft mit Elderhostel - nicht nach London, sondern an exotische Orte mit Eingeborenen, die weise, nicht materialistisch und vermutlich unhygienisch waren. Daher wurde sie durch mein Angebot, sie ins Imperial War Museum mitzunehmen, nicht in Versuchung geführt.
Harriet war Gründungsmitglied der Conflicted Socialist Party gewesen und weigerte sich aus Prinzip, Privatclubs beizutreten, zögerte aber nicht, sich von mir oder jemand anders einladen zu lassen. Und jetzt, da mein Vater tot war, war sie offenbar vom Wein- und Winselclub der Witwen eingeladen worden, wie manche Clubmitglieder diese Tratschrunden bezeichneten. Ich hatte die Damen früher immer in der Cocktaillounge gesehen, wo sie ihren Wein oder Sherry tranken und mit einer Zuneigung von ihren verstorbenen Männern sprachen, die sie für ihre lebenden Gatten nie übrig gehabt hatten.
Ich ging mit Susan zur Vordertür. Doch dann blieb ich stehen und sagte: »Es wird Zeit, sich der Bestie zu stellen.«
»Was meinst du damit?«
»Meine Mutter ist in der Lounge.«
»John, du bist abscheulich. Lass uns Hallo sagen.«
Wir machten kehrt und betraten die Lounge.
Harriet entdeckte uns, als wir hereinkamen, sprang auf und stieß einen Freudenschrei aus. »John! John!« Sie sagte zu ihren Freundinnen: »Mädels! Das ist mein Sohn John! Oh, welch gnädiges und gebenedeites Schicksal ist mir heute Abend hold !« Okay, das waren nicht ihre genauen Worte. Um ehrlich zu sein, war sie so gerührt, dass sie gar keine Worte fand.
Ich folgte Susan, die die Initiative ergriff, zum Tisch, und sie beugte sich zu ihrer zukünftigen Schwiegermutter, umarmte sie und gab ihr einen Kuss. Ich tat es ihr gleich.
Harriet stellte uns ihren Freundinnen vor: »Meine Damen, das ist mein Sohn John, an den ihr euch, glaube ich, noch erinnert, und das ist seine ehemalige Frau, Susan Stanhope, die ihr bestimmt alle kennt, beziehungsweise ihre Eltern.« Dann stellte sie uns die vier Damen vor, und ich konnte mich tatsächlich an die fröhlichen Witwen oder ihre verstorbenen Ehemänner erinnern, von denen beim letzten Mal einige noch ganz lebendig gewirkt hatten.
Harriet trug ein schickes Bauernkleid aus den siebziger Jahren und wahrscheinlich dieselben Sandalen, die sie bei ihrer ersten Antikriegsdemonstration getragen hatte. Das war vor Vietnam gewesen, folglich musste es um einen anderen Krieg gegangen sein, aber um welchen, ist bis heute Harriets Geheimnis. Sie hat lange graue Haare, mit denen sie, glaube ich, geboren wurde, und der einzige Schm uck, den sie trägt, ist von Ein geborenen hergestellt, die von der westlichen Zivilisation verdorben wurden und sich jetzt für diesen Gefallen revan chieren.
Wir ergingen uns in müßigem Geplauder mit den Damen, und ich spürte, dass einige Leute an der Bar und an den Tischen über uns redeten. So viel Aufmerksamkeit war mir in einer Bar nicht mehr zuteil geworden, seit ich hier vor zehn Jahren mit den Bellarosas Cocktails getrunken hatte.
Harriet bat uns nicht, Platz zu nehmen, deshalb nutzte Susan die Gelegenheit und sagte zu ihren Freundinnen: »Ich werde Harriet kurz entführen, wenn Ihnen das recht ist.«
Harriet entschuldigte sich und begleitete uns in die Lobby. Auch wenn sich meine Mutter vielleicht fragte, warum Susan und ich gemeinsam unterwegs waren, platzte sie doch nicht vor Neugier, sondern schaute Susan ausdruckslos an.
»John möchte dir etwas mitteilen«, sagte Susan zu ihr.
In der Tat wollte ich Harriet vieles mitteilen, aber ich widerstand dem Impuls und beschränkte mich auf: »Susan und ich haben uns wieder versöhnt.« Harriet nickte.
»Und wir wollen wieder heiraten.« Dann überbrachte ich ihr die zweite gute Nachricht: »Ich ziehe von London wieder hierher.«
Sie nickte erneut und schaute Susan an, als wollte sie sich diesen Unsinn von ihr bestätigen lassen.
Susan sagte schlicht und einfach: »Wir haben nie aufgehört, uns zu lieben, und John hat mir vergeben.«
Harriet reagierte so, als hätte sie all das irgendwie schon gewusst und eine gute Erwiderung einstudiert. »Hast du ihm vergeben?«, fragte sie.
Das war eine Fangfrage, und eine patzige obendrein, aber Susan erwiderte: »Wir haben über all die Schmerzen gesprochen, die wir einander zugefügt haben, und wir haben es hinter uns gebracht und sind bereit, weiterzumachen.«
Harriet musterte
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