Nelson DeMille
anschließend über eine der großen geschwungenen Treppen ins obere Foyer geleitet. Damals ging es ein bisschen förmlicher zu als heute, wo wir unsere Hausgäste zum Beispiel folgendermaßen begrüßen: »Hey, John, wie zum Teufel geht's dir? Schmeiß deinen Mantel irgendwohin. Lust auf ein Bier?«
Mr Nasim führte mich die rechte Treppe hinauf, die noch immer von den elektrischen Fackeln erleuchtet wurde, die in den Händen bemalter gusseiserner Mohren mit Turbanen steckten. Ich fragte mich, ob sich Mr Nasim durch die Statuen beleidigt fühlte, weil sie seine Glaubensgenossen offensichtlich als dunkelhäutige Menschen in serviler Haltung darstellten.
Dank Anthony geisterte immer wieder der Untergang des römischen Reiches durch meine Gedanken, und mir fiel etwas ein, das ich während meiner Zeit an der St. Paul's - in der es ständig um römische Geschichte ging - über Attila den Hunnenkönig gelesen hatte. Nach der Eroberung der Stadt Mediolanum hatte er den Herrscherpalast betreten und ein großes Fresko entdeckt, das den römischen Kaiser zeigte, vor dessen Thron sich besiegte Skythen zu Boden geworfen hatten. Unglücklicherweise hielt Attila die katzbuckelnden Skythen für Hunnen und wurde so sauer, dass er den römischen Gouverneur auf allen vieren zu sich kriechen ließ.
Ich nehme an, ich machte mir Gedanken, dass es wegen der Mohren zu einem ähnlichen kulturellen Missverständnis kommen könnte, und meinte, ich sollte so was Ähnliches sagen wie: »Die Stanhopes waren ungehobelte Rassisten und religiöse Eiferer, und diese Statuen haben mich schon immer abgestoßen.«
Naja, möglicherweise war das ein alberner Gedanke, und offen gesagt, war es mir schnurzegal, was Amir Nasim dachte; er hatte reichlich Zeit gehabt, die Statuen loszuwerden, wenn er es gewollt hätte.
Jedenfalls plauderten wir über das Wetter, bis wir am Kopf der Treppe angelangt waren und uns ins obere Foyer begaben, wo in vergangenen Zeiten der Hausherr und seine Frau ihre mittlerweile mantel-, hut- und wahrscheinlich auch atemlosen Gäste begrüßt hätten.
Vom oberen Foyer aus folgte ich Mr Nasim nach rechts, eine lange, breite Galerie entlang, die, wie ich wusste, zur Bibliothek führte.
»Wie lange ist es her, seit Sie zum letzten Mal hier waren?«, erkundigte sich Mr Nasim. Offensichtlich wusste er etwas über meine persönliche Geschichte. »Zehn Jahre«, erwiderte ich.
»Ah, ja, ich habe dieses Haus vor neun Jahren erworben.« Ich erinnerte mich, dass die Bundesregierung nach der Beschlagnahme von Frank Bellarosas Grundbesitz Stanhope Hall und den Großteil der Ländereien an ein japanisches Unternehmen verkauft hatte, das es als Erholungsstätte für ausgebrannte Führungskräfte Nippons nutzen wollte, aber das Vorhaben war ins Wasser gefallen. Edward hatte mir schließlich erzählt, dass der Besitz ein Jahr nach meiner Abreise von einem Iraner erworben worden war. Vielleicht sollte ich Mr Nasim mitteilen, dass Anthony Bellarosa das Eigentum seines Vaters zurückhaben wollte.
»Haben Sie gute Erinnerungen an diesen Ort?«, fragte Mr Nasim.
Eigentlich nicht. Aber ich erwiderte: »Ja.« Susan und ich hatten sogar in Stanhope Hall geheiratet, als William und Charlotte noch hier wohnten, und Willie der Geizige hatte für uns - beziehungsweise für seine Tochter - einen Empfang unter freiem Himmel ausgerichtet, zu dem er etwa dreihundert seiner besten und liebsten Freunde, Verwandten und Geschäftspartner eingeladen hatte sowie ein paar Leute, die ich kannte. Da Willie die Rechnung bezahlte, gingen Speisen und Getränke vorzeitig zur Neige, das Orchester packte um Punkt zweiundzwanzig Uhr die Instrumente ein, und um halb elf suchten die verbliebenen Gäste nach den letzten Weinresten und Käserinden.
Das war nicht der erste Hinweis darauf gewesen, dass mein neuer Schwiegervater ein Meister der großen Billigheimergeste war, und auch nicht der letzte. Am Ende hatte er auch das Einzige zurückbekommen, das er mir jemals überlassen hatte: seine Tochter.
»Wir sind noch immer beim Einrichten«, teilte mir Mr Nasim mit. »Das dauert eine Weile.«
»Ja«, sagte er und fügte hinzu: »Meine Frau ... Frauen brauchen Zeit für ihre Entscheidungen.«
»Tatsächlich?« Neun Jahre ist nicht so lange, Amir. Du bist verheiratet. Lerne, geduldig zu werden.
Genau genommen waren die breite Galerie und die angrenzenden Zimmer nahezu unmöbliert und ohne irgendein Bild oder Dekorationsstück. Allerdings lagen vereinzelte Teppiche auf den
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