Nelson DeMille
einen gewissen Amir Nasim handeln konnte.
Durch meinen Aufenthalt in London hatte ich unmittelbaren Kontakt mit Männern und Frauen gehabt, die dem islamischen Glauben anhingen, darunter auch ein paar Kollegen, und ich nahm an, dass Mr Nasim, ein Iraner, Moslem war und sein Sabbat daher bei Sonnenuntergang mit dem Ruf zum Gebet beginnen würde. Er und wahrscheinlich seine ganze Hausgemeinschaft würden sich in eine Moschee begeben oder die Gebetsteppiche einfach in der ehemaligen Kapelle von Stanhope Hall ausrollen, die Schuhe ausziehen, sich gen Mekka verbeugen - in diesem Teil der Welt nach Osten, in Richtung der Hamptons - und beten.
Ich wollte sie nicht bei ihrer Andacht stören, musste aber über kurz oder lang mit Mr Nasim sprechen, folglich sollte ich es gleich tun. Da ich annahm, dass ich noch ein paar Stunden Zeit hatte, bis die Gebetsteppiche ausgerollt wurden, zog ich eine braune Stoffhose, einen blauen Blazer, ein Golfhemd, Slipper und saubere Socken an, nur für den Fall, dass Mr Nasim einen weiteren Teppich ausrollte und mich bat, zu bleiben.
Ich fand eine Schachtel mit meinen gravierten Visitenkarten, auf denen lediglich John Whitman Sutter, Stanhope Hallstand, und steckte mir ein paar in die Hosentasche.
Susan hatte mir diese ebenso nutzlosen wie anachronistischen Karten geschenkt, von denen ich in den zwölf Jahren, die ich sie besaß, vermutlich keine sechs gebraucht hatte. Die letzte hatte ich - um mich zu amüsieren - Frank Bellarosa über seinen Bauunternehmer zukommen lassen, mit der Anweisung, dass Mr Bellarosa sich bei Mr Sutter wegen des Pferdestallprojekts melden sollte, zu dem uns unser neuer Nachbar seine Hilfe angeboten hatte. Er hatte regelrecht darauf bestanden.
Normalerweise wäre ich die rund achthundert Meter über die Zufahrt zu Stanhope Hall gelaufen, aber ich wollte nicht zu Fuß an Susans Gästehaus - unserem einstigen ehelichen Wohnsitz - vorbei. Deshalb nahm ich den Taurus und steuerte in Richtung Herrenhaus.
Ich passierte die Abzweigung zu ihrem Cottage, das ein paar hundert Schritte links von mir lag und in dessen vorderem Zimmer, d as früher mein Herrenzimmer war. Licht brannte , S usans SUV parkte auf dem Vorplatz.
Ein Stück vom Gästehaus entfernt sah ich Susans Stall - ein stattlicher Ziegelbau, der einst näher beim Herrenhaus gestanden hatte, den Susan aber Stein für Stein vom Grund und Boden ihres Vaters auf ihr Grundstück hatte versetzen lassen, weil sie erwartete, dass Stanhope Hall verkauft werden würde. Es war ein schwieriges und kostspieliges Projekt, aber wie schon gesagt, war uns das Glück hold, und Mr Bellarosa war nicht nur gern bereit, sondern regelrecht darauf versessen, die Sache von Dominic, seinem Bauunternehmer, unverzüglich erledigen zu lassen, und zwar für einen Apfel und ein Ei. Ich lehnte ab; Susan ging darauf ein. Die Lektion dabei lautete: Wenn etwas zu gut aussieht, um wahr zu sein, ist es auch so. Das wusste ich bereits. Aber ich wusste nicht, dass Frank Bellarosa sich ebenso sehr für Susan interessierte wie für mich.
Jedenfalls erhob sich vor mir Stanhope Hall, das auf einer Anhöhe inmitten von Terrassengärten thronte.
Um sich ein Bild von dem Gebäude machen zu können, sollte man ans Weiße Haus in Washington oder an irgendeinen anderen neoklassizistischen Palast denken und sich dann eine Welt ohne Einkommenssteuer - und daher ohne Steueranwälte wie meine Wenigkeit - vorstellen, dazu billige Arbeitskräfte in Gestalt von Einwanderern, Sechzigstundenwochen ohne soziale Leistungen und die Reichtümer eines neuen Kontinents, die in die Taschen von ein paar hundert Männern in New York fließen. So sah das Goldene Zeitalter aus, auf das die wilden Zwanziger folgten, in denen alles noch besser und die Herrenhäuser immer größer und zahlreicher wurden und wie goldene Pilze entlang der Fifth Avenue, in Bar Harbor, Newport, den Hamptons und hier an der Gold Coast aus dem Boden schössen. Dann kam der Schwarze Dienstag, und binnen eines Tages brach alles zusammen. Dumm gelaufen.
Die hinteren fünfundzwanzig Hektar des Stanhope'schen Grundstücks, auf denen Susan meistens ausgeritten war, waren im Zuge des Landraubs durch den Bund unterteilt worden, damit man ein Dutzend scheußliche, auf künstlerisch wertvoll gemachte Minivillen auf den vorgeschriebenen zwei Hektar großen Parzellen bauen konnte. Gottlob hatte man einen Palisadenzaun samt Graben errichtet, die diese Monstrositäten von den vorderen Ländereien trennten, und
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