Nelson DeMille
dachte ich an Susan und Frank, die sich den ganzen Sommer lang um den Verstand gevögelt hatten, während ich mir in der Stadt den Arsch abrackerte, mich nebenbei gegen den Vorwurf der Steuerhinterziehung wehrte und in meiner Freizeit den Freund meiner Frau wegen einer Mordanklage verteidigte. All diese angenehmen Erinnerungen versetzten mich in den richtigen Gemütszustand.
Ich wartete etwa zehn Sekunden, dann lehnte ich den Umschlag an die Tür, drehte mich um und ging.
Etwa fünf Sekunden später hörte ich, wie die Tür geöffnet wurde und Susan »Danke« rief.
Ich warf einen Blick zurück und sah sie in Jeans und einem rosa Polohemd in der Tür stehen und den Brief in der Hand halten. »Bitte sehr«, sagte ich und ging weiter. »John.«
Ich blieb stehen und drehte mich um. »Ja?«
»Würdest du einen Moment hereinkommen? Ich habe etwas für dich.«
Ich warf einen Blick auf meine Uhr, tat so, als wäre mir das Ganze ausgesprochen zuwider, und sagte: »Nun ja ... na schön.«
Ich ging zum Haus zurück, und sie verschwand im Inneren und ließ die Tür offen. Ich trat ein und schloss sie.
Susan stand am anderen Ende des langen Vorsaals, nahe der Küche, und fragte: »Möchtest du einen Kaffee?«
»Danke.«
Sie betrat die Küche, und ich folgte ihr. Das Haus sah, soweit ich das erkennen konnte, noch fast genauso aus wie vor zehn Jahren und war größtenteils mit den Antiquitäten der Familie Stanhope eingerichtet, die ich als Plunder bezeichnete und die Susan mit nach Hilton Head genommen oder irgendwo eingelagert haben musste.
Auch die große rustikale Küche sah noch fast genauso aus, einschließlich der alten Aufziehuhr an der Wand, und ich kam mir erneut vor wie in Unheimliche Geschichten, so als wäre ich kurz weg gewesen und hätte bei meiner Rückkehr festgestellt, dass ich seit zehn Jahren geschieden war.
Susan, die mir den Rücken zugekehrt hatte und mit der Kaffeekanne hantierte, fragte: »Immer noch schwarz?« »Ja.«
Sie goss zwei Tassen ein, drehte sich um, und ich ging ihr auf halbem Weg entgegen. Sie reichte mir eine Tasse, und wir schauten einander an. Sie war wirklich nicht gealtert, was mir bereits aufgefallen war, als ich sie vor ein paar Tagen von weitem gesehen hatte, und sie hatte in den zehn Jahren kein Gramm zugenommen, aber ich auch nicht. Da uns offensichtlich die gleichen Gedanken durch den Kopf gingen, sagten wir gleichzeitig: »Du siehst« - wir lächelten beide unwillkürlich und fuhren fort - »gut aus.«
Nachdem wir die Komplimente hinter uns hatten, sagte ich: »Ich muss mit dir sprechen.«
»Falls du hergekommen bist, weil du ein schlechtes Gewissen hast -« »Ich habe kein schlechtes Gewissen.«
»Du kannst schlafen, mit wem immer du willst, aber sieh bitte zu, dass du dich von meinen Freundinnen fernhältst.« »Nun ja, dann gib mir eine Liste mit deinen Freundinnen.« »Und du machst mit deinen Freunden das Gleiche, falls du welche hast.«
Miststück. Ich stellte meine Kaffeetasse auf den Tisch und sagte: »Bevor ich gehe, musst du einsehen, dass ich nicht mit Elizabeth Allard geschlafen habe.« »Es ist mir egal, ob du es getan hast oder nicht.« »Aber du hast doch gerade gesagt -« »Willst du mir gegenüber den Anwalt spielen?«
Manche Dinge ändern sich nie. Susan ist sehr klug, aber noch nie hat ihr jemand vorgeworfen, sie sei realistisch oder vernünftig. Ich meine, sie kann es sein, doch wenn sie unter Stress steht, sucht sie im versponnenen Teil ihres Gehirns Zuflucht. Das liegt an den roten Haaren. Ich sagte: »Schau mir in die Augen.«
»In welches?«
»Schau mich an.«
Sie schaute mich an, und ich sagte: »Ich habe nicht mit Elizabeth geschlafen.«
Sie starrte mir weiter ins Gesicht, und ich hielt ihrem Blick stand. »Sprich mit Elizabeth«, schlug ich vor.
Und so standen wir da, während die Uhr an der Wand vor sich hin tickte, wie so oft, wenn Susan und ich dieses minutenlange tödliche Schweigen nach einem Streit in der Küche verstreichen ließen. Die Streitereien waren für gewöhnlich kathartisch, ein gutes Zeichen dafür, dass uns nach wie vor viel aneinander lag und wir bereit waren, uns ein paar Runden lang zu messen, und meistens küssten und versöhnten wir uns dann und stürmten hinauf ins Schlafzimmer. Ich war mir sicher, dass auch sie daran dachte, aber diesmal würden wir nicht ins Schlafzimmer gehen. Ich sagte sogar: »Ich komme ein andermal wieder.« »Was ist in dem Umschlag?«
»Ein paar Fotos und ein paar Papiere, die du
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