Nelson DeMille
sein, daher fragte ich die trauernde Witwe: »Worüber musst du mit mir sprechen?« »Fang du an.« »Ladies first.«
»Na schön. Tja, diese Schachtel enthält Abzüge von Fotos, die du meiner Meinung nach vielleicht gern hättest. Außerdem habe ich einen Packen Briefe von Edward und Carolyn gefunden, die sie uns geschrieben haben, als sie auf der Schule waren, und ich habe Fotokopien für dich gemacht.«
»Danke. Hast du auch die geplatzten Schecks, die wir ihnen geschickt haben?«
Sie lächelte. »Nein, aber ich habe die Dankesschreiben. Heute schicken sie E-Mails, früher konnten sie auch mit der Hand schreiben.«
Wir lächelten beide.
»Was ist in dem Umschlag?«, fragte sie.
»Das Gleiche. Fotos, ein paar Briefe von den Kindern. Einige Dokumente, die du vielleicht aufheben willst.«
»Danke. Sowohl Edward als auch Carolyn haben mir gesagt, dass sie zu Ethels Beerdigung kommen werden. Edward muss rechtzeitig Bescheid wissen. Er hat viel zu tun. Carolyn ebenfalls, aber sie ist von Brooklyn aus rasch hier.«
»Ich wollte immer miterleben, wie meine Kinder Arbeit und Familienleben miteinander in Einklang bringen. Ich kann es kaum erwarten, dass sie heiraten und Kinder kriegen.«
»John, bei dir klingt das so, als ob Familie, Arbeit und Kinder eine Art Strafe wären.«
»Tut mir leid. Das ist falsch rübergekommen. Außerdem solltest du sie auf dem Laufenden halten, was Ethel angeht. Ich habe weder E-Mail noch Handy.« »Willst du dir eins zulegen?« »Falls ich bleibe.«
Sie hakte nicht weiter nach, sondern fragte: »Wann hast du das letzte Mal mit ihnen gesprochen?«
»Letzten Sonntag. Sie klangen gut.«
»Ich glaube, es geht ihnen auch gut. Sie freuen sich, dass du wieder da bist. Wie lange bleibst du?«
»Mindestens bis zur Beerdigung.«
Sie nickte, stellte jedoch keine Anschlussfrage. Es ging um die Familie, deshalb riet sie mir: »Du solltest deine Mutter besuchen - vor der Beerdigung.« »Vor ihrer oder Ethels?«
»Jetzt mal ernst. Du solltest dich gegenüber deiner Mutter so verhalten, wie du es auch von deinen Kindern dir gegenüber erwartest. Du musst ihnen ein Vorbild sein. Sie ist ihre Großmutter. Du bist ihr Sohn.«
»Ich glaube, ich hab's kapiert.«
»Du musst erwachsener werden.«
»Ich bin der Sohn meiner Mutter und verhalte mich so, wie sie sich mir gegenüber verhält.«
»Lächerlich. Die Entfremdung zwischen dir und deiner Mutter wirkt sich auf unsere Kinder aus. Ich denke an sie.«
Es geht natürlich immer um die Kinder, aber die scheren sich nur selten darum. Jedenfalls ging es hier nicht um Harriet und mich oder um die Kinder und mich; es ging um Susan und mich.
Sie kam zum nächsten Punkt und sagte: »Edward und Carolyn ist auch angesichts deiner Einstellung zu meinen Eltern nicht ganz wohl zumute.« Und für den Fall, dass mir der Zusammenhang entgehen sollte, erinnerte sie mich: »Es sind ihre Großeltern.«
»Wie lange soll dieser Vortrag noch dauern?«
»Das ist kein Vortrag. Das sind wichtige Themen, die zum Wohle unserer Kinder angesprochen werden müssen.«
Ich hätte am liebsten gesagt: »Sie sind keine Kinder mehr, und du hättest vor zehn Jahren an sie denken sollen, als du beschlossen hast, mit Frank Bellarosa zu ficken.« Stattdessen sagte ich: »Na schön, da ich gewissermaßen mit jedem hier etwas zu tun habe, werde ich versuchen, ein besserer Sohn, ein besserer Vater und ein besserer Exmann zu sein.«
»Und hoffentlich weniger sarkastisch.«
»Und ich möchte offiziell festhalten, dass ich zu Edward oder C arolyn nie etwas Abfälliges über deine Eltern gesagt habe.«
»Vielleicht nicht... aber sie spüren die Feindseligkeit.« Dann teilte sie mir eine gute Nachricht mit: »Meine Eltern sind im Laufe der Jahre viel abgeklärter geworden.«
Die beiden konnten nur abgeklärter werden, wenn sie ein Gehirntransplantat bekamen. Ich sagte: »Dann war ich es vielleicht, der das Schlimmste in ihnen zum Vorschein gebracht hat.«
»Was zwischen uns geschehen ist, hat sich auf viele Menschen in unserer Umgebung ausgewirkt, an denen uns etwas liegt und denen etwas an uns liegt, daher sollten wir meiner Meinung nach versuchen, höflich zueinander zu sein und allen Beteiligten das Leben leichter zu machen.«
»Dafür könnte es ein bisschen zu spät sein.«
»Nein, ist es nicht.«
Ich ging nicht darauf ein.
»Wann gedenkst du die Sache auf sich beruhen zu lassen?«, fragte sie mich.
»Das habe ich schon.«
»Nein, hast du nicht.«
»Und, hast du
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