Nelson sucht das Glück
zurück und entfernte sich immer mehr von zu Hause. Er wusste nicht, dass viele Hunde, besonders große Exemplare, die viel Futter brauchten, oft schon wenige Tage nach dem Ausreißen von zu Hause starben, an der Hitze oder der Anstrengung oder weil sie nicht genug zu fressen und zu trinken hatten. Das alles wusste Nelson nicht. Gewiss, sein größter Wunsch war es, seine große Liebe wiederzufinden, doch bis dahin musste er hauptsächlich eins: fressen.
12
Nelson gewöhnte sich schnell einen Rhythmus auf der Müllhalde an, so wie er auch die tagtägliche Routine bei Katey und Don geliebt hatte. Irgendwo in ihm war immer der hartnäckige Wunsch nach Regelmäßigkeit, ganz gleich, unter welchen Umständen. Irgendwie schenkte ihm das ein Gefühl der Zugehörigkeit, obwohl er doch eigentlich mutterseelenallein war.
Schon bald hatte er begriffen, dass es am besten war, frühmorgens oder am frühen Abend den Müll nach Essbarem zu durchsuchen. Bei Tage waren immer jede Menge Müllmänner unterwegs, und Müllwagen kamen mit neuem Abfall auf das Gelände gefahren. Ein paar Mal war ein angriffslustiger Müllmann hinter Nelson hergelaufen oder hatte versucht, ihn mit einem Rechen zu verscheuchen, und er war nur knapp entkommen. Seither achtete er darauf, verstohlen und umsichtig zu sein, wenn er sich auf die Müllhalde schlich.
Hunger litt er nie. Doch er lernte, vorsichtig zu sein, wenn er die Müllhaufen durchwühlte. Mehrmals schnitt er sich an weggeworfenen Rasierklingen. Einmal stach er sich mit einer Spritze in den Fuß, die er nicht gesehen hatte, weil sie unter einem Haufen Karottenresten verborgen war. Sein Fuß tat mehrere Tage lang so weh, dass er kaum schlafen konnte. Er leckte daran, versuchte, den Schmerz wegzusaugen, biss an der Wunde herum. Irgendwann wurde der Schmerz schwächer.
Es lebten noch mehrere andere Hunde auf der Müllhalde. Als Nelson zum ersten Mal in Kontakt mit ihnen kam, ging er spielerisch auf sie zu, weil er hoffte, Kameraden zu finden. Doch ausnahmslos alle knurrten ihn an, warnten ihn davor, zu nahe zu kommen. Als er die Nase schnüffelnd in die Luft hielt, um ihre Witterung aufzunehmen, las er daraus hauptsächlich Angst und Schmerz. Er wusste noch nicht, wie Tod oder Krankheit rochen, doch auch das waren Gerüche, die die Körper dieser Hunde verströmten, Gerüche, die Nelson nicht mochte.
Auch Ratten gab es, und zwar überall. Sie wuselten um ihn herum, wenn er auf der Müllhalde nach etwas zu fressen stöberte. Er mochte diese Tiere nicht, auch nicht ihren unangenehm feuchten Geruch, durch den sie sich deutlich von der Spielzeugratte unterschieden, mit der er so gerne gespielt hatte. Ein paar Mal versuchten sie ihn wegzubeißen, aber er schlug sie mit lautem Bellen in die Flucht.
Bei Nacht schlief Nelson in der Nähe der Müllpresse, die eine angenehme Wärme abströmte. Dort gab es jede Menge dunkle Plätze, an denen er sich sicher fühlte. Er roch die anderen Hunde in der Nähe, doch die ließen ihn in Ruhe, wenn er sie in Ruhe ließ. Jeden Morgen beim Aufwachen wurde er schier überwältigt von Traurigkeit, wenn ihm bewusst wurde, dass er nicht in Kates warmem Bett lag und gleich in den grünen Garten hinausdurfte. Hier in der Gegend gab es nur wenige Pflanzen, bloß ein paar graue Büsche und kümmerliche Bäume.
Nelson beschnüffelte sie regelmäßig voller Wehmut, weil er sich nach dem Geruch von Natur sehnte. Hier in der Nähe gab es nur wenig, was für Nelsons Nase gut roch. Überall waren Autoabgase, und stinkender Rauch aus den nahen Fabrikschloten lag in der Luft. Ab und zu, an einem windigen Tag, bekam Nelson einen Hauch von einem Fluss, von den Wäldern und Bergen in weiter Ferne in die Nase. Das wirkte belebend auf ihn und erfüllte ihn mit Energie. In solchen Nächten hatte er angenehme Träume. Doch allzu oft kam das nicht vor.
Bei Tage tat Nelson alles, um Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Das bedeutete, sich von den Müllwagen und den Müllmännern fernzuhalten. Offenbar lebten auch einige Menschen hier, doch sie rochen alle wie der Mann, der ihn an seinem allerersten Tage unterwegs aus dem Verkehr gerettet und ihm sein Halsband gestohlen hatte. Aus ihren Poren strömte der Geruch von Alkohol und anderen Substanzen. Oft roch Nelson an diesen heimatlosen Menschen auch Einsamkeit und Traurigkeit, und er spielte mit dem Gedanken, sie zu trösten. Doch in diesen wenigen Wochen weg von zu Hause hatte er gelernt, sich vor Gefahr zu schützen, und so vermied er
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