Nelson sucht das Glück
in seiner Natur, wie ein Wolf zu töten. Es war nicht sein Ziel. Wäre er dem Rehkitz allein begegnet, hätte er es vielleicht eher zu seinem Spielgefährten gemacht.
Vor Jahrtausenden hatten Menschen kleine Wolfsjunge, die in der Wildnis allein waren, weil ihre Eltern von Bären oder anderen Raubtieren getötet worden waren, mit in ihre Behausungen genommen und sie an ihren Lagerfeuern gefüttert. Und die Welpen mit ihrem instinktiven Sinn für Hierarchie hatten sich ihren Platz inmitten der menschlichen Rudel gesucht und waren zu einem wesentlichen Bestandteil der menschlichen Gesellschaft geworden. Die Menschen waren erfahren darin, Tiere zu zähmen, und mit der Zeit waren bestimmte Charakterzüge einzelner Wölfe, die gut zu den Menschen passten, verstärkt worden. Obwohl die Wölfe durch ihr spezielles Agieren mit Menschen allmählich zu Hunden geworden waren, hatten sie vieles von ihrer Wolfsvergangenheit beibehalten. Man fütterte sie mit Resten des Essens der Menschen, und weil für sie folglich keine Notwendigkeit mehr bestand, zu jagen, hatten sie das mächtige Verlangen, zu töten, das den Wolf zu dem machte, was er war, verloren. Hunde überschritten niemals die Grenze zwischen dem Spiel von Welpen und der wirklichen Jagd. Sie blieben immer eine Art von jugendlichen Wölfen, verspielt und liebevoll und definiert durch ihre Fähigkeit zu spielen.
Und so stand Nelson bestürzt vor der Szenerie, die sich ihm bot – den Wölfen, die im Schutze der Nacht ein Kitz töteten und fraßen. In genau diesem Moment erwachte in ihm zum ersten Mal der Instinkt, diese Geschöpfe zu verlassen. Die Welpen, die er geliebt hatte, wurden allmählich zu etwas anderem, etwas, das er selbst nie werden konnte. Während der Wolf mit dem weißen Streifen Nelson anstarrte, seine Augen wie stählerne Dolche, die sich durch die Nacht bohrten, die Fänge mit frischem Blut befleckt, spürte der Hund, wie ein eisiges Beben ihn erfasste.
30
Wenn ein Lebewesen spürt, dass eine Veränderung in der Luft liegt, dann wird seine erste Reaktion immer die sein, diese Veränderung zu leugnen, um so weiterleben zu können wie bisher. In seinem kurzen Leben hatte Nelson bereits viele Veränderungen erlebt, doch allmählich wurde er sie leid. Er hatte recht geschickt gelernt, mit seinen drei Beinen weiterzuleben, doch der Unfall hatte ihn Jahre seines Lebens gekostet. In seinen ersten Monaten bei den Wölfen hatte sich der Hund sicher gefühlt. Doch in der Nacht, als sie von der Jagd nach Hause kamen, scheuchten die Wolfseltern zum ersten Mal die jungen Wolfskinder und Nelson aus der Höhle. Nelson wehrte sich nicht dagegen, doch es machte ihn traurig. Er wusste nicht, dass dies nur die erste in einer ganzen Reihe von Zurückweisungen für die Welpen war, die irgendwann dazu führen würden, dass die Wolfseltern ihre Kinder aus dem Rudel verjagten, bevor diese begannen, die Rangordnung infrage zu stellen. Irgendwann würden die Jungen selbst Rudel gründen, sofern sie draußen in der Wildnis überlebten. So war das eben bei den Wölfen. Im komplexen Leben der Hunde und ihrer Herrchen oder Frauchen stand es normalerweise nicht auf dem Plan, einander zu verlassen. Ein Hund verlor nie das Bedürfnis, bei seinem Herrn zu bleiben. War die große Liebe einmal besiegelt, starb sie nie mehr.
In jener Nacht konnte Nelson kaum schlafen, obwohl die Wärme der anderen Jungtiere ihm Trost schenkte. Er war schon jetzt um einiges kleiner als sie. Die drei umgaben ihn wie eine warme Decke. Mitten in der Nacht weinte er ein bisschen, als hätte er einen seltsamen Traum gehabt, und die anderen Welpen leckten ihn und stießen ihn zärtlich mit den Schnauzen an. Doch einschlafen konnte er nicht mehr. Die anderen Erwachsenen schliefen ganz in der Nähe.
Die Wolfsmutter hatte Nelson in den vergangenen Monaten wie ihr eigen Fleisch und Blut aufgezogen. Sie wusste nicht, warum er anders aussah und am Anfang auch anders gerochen hatte als ihre eigenen Jungen. Doch sie war kein Tier, das derlei infrage stellte. Etwas in ihrem Gehirn hatte ihn an jenem Tag, als sie ihn das erste Mal gesehen hatte, als Welpen erkannt, und ihre Mutterinstinkte hatten die Oberhand gewonnen. Sie hatte ihn aufgezogen wie die anderen, hatte ihn gefüttert und ihn bei Nacht warmgehalten und vor Raubtieren beschützt.
Doch jetzt spürte sie mehr und mehr, wie sehr er sich von den anderen Jungen unterschied. Sie entwickelten sich von den weichen und verspielten Wesen, die sie einmal gewesen
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