Nelson sucht das Glück
kämpferisches Gefühl des Triumphes stieg in ihm auf. Er hatte seine Dominanz über das kleinere Tier bewiesen. Die Welpen waren traurig über das Verschwinden ihres Bruders. Die schwächste von den dreien empfand den Verlust am stärksten. Nun war sie diejenige, die als Letzte fressen durfte und die vom Rest des Rudels zu ständiger Unterwürfigkeit gezwungen wurde. Doch eigentlich war das ein Segen für sie. Nur zwei Monate später wurden ihre beiden stärkeren Geschwister von den Wolfseltern aus dem Rudel vertrieben. Eines Nachts hatte einer der stärkeren Jungwölfe die Mutter angeknurrt, als sie sich vor ihm zu der Beute begab. Am nächsten Tag war er von seinem Vater gebissen worden und humpelte in die Wildnis davon. Auch der mittlere Jungwolf war einige Tage später verjagt worden. Doch die beiden konnten den Härten der Wildnis keinen Widerstand entgegensetzen und waren einige Monate später gestorben, ohne vorher ein anderes Rudel gefunden zu haben, das sie anführen könnten. Die schwächste aus dem Wurf jedoch durfte ihr ganzes neunjähriges Leben lang beim Rudel bleiben, selbst als ihre Mutter und der Vater irgendwann zu alt waren und durch einen anderen Erwachsenen ersetzt wurden.
In jener Nacht waren die Wolfsmutter und der Wolfsvater noch allmächtig. Doch nur wenige Jahre später würde ein kalter Winter sie schwächen, und sie würden sich vom Rudel wegschleichen, unter einen hohen Baum legen und sterben.
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Nelson rannte. Zuerst hatte er sich ganz langsam von dem Wolfsbau wegbewegt, ohne ein besonderes Ziel vor Augen. Doch ehe er es sich versah, war er bereits weit entfernt von dem Ort, den er in den vergangenen vier Monaten sein Zuhause genannt hatte, und hatte bereits die Witterung von Bär und Kojoten aufgenommen. Er rannte ziellos durch die Nacht, lief stolpernd an Büschen und Bäumen vorbei, manchmal ganz in der Nähe von Bauten anderer Tiere, ob groß oder klein.
Ein Beobachter hätte nur ein bemitleidenswertes Wesen gesehen: einen mageren, dreibeinigen Hund mit langem, verfilztem Fell, schmutzig und von abstoßendem Geruch. Niemand in der ganzen Welt hätte es erfahren, wenn Nelson sich in dieser Nacht unter einen Baum gelegt hätte und gestorben wäre. Im Herbst hätte der Wind ihn mit Laub bedeckt, und allerlei kleine Insekten und Würmer hätten ihn ganz allmählich von der Welt verschwinden lassen. Niemandem hätte es das Herz gebrochen. Weder Katey noch Thatcher, Lucy oder all die anderen, mit denen Nelson während seines kurzen Lebens in Berührung gekommen war, hätten jemals erfahren, dass das die Nacht war, in der er für immer der schönen Erde Lebewohl sagte.
Nelson war verwirrt, er fror und hatte Hunger. Er wusste nicht wohin. Der Wolfsgeruch bedeutete keine Sicherheit mehr für ihn, aber auch menschliche Siedlungen konnten ihm keine Geborgenheit geben. Es war seine neugierige Art, die ihn viele Jahre zuvor dazu gebracht hatte, zum Vagabunden zu werden, und bis heute hatte seine Nase riesige Duftmengen der Welt erkundet und katalogisiert. Es war ein tiefes Wissen aus sich kreuzenden und verschlingenden Düften und Gerüchen und Gefühlen und Hoffnungen und Ängsten, das er da angesammelt hatte – der stärkste Teil seines Bewusstseins, seine bröckelnde Landkarte einer feindselig gewordenen Welt. Dennoch vertraute er auch auf sie, und irgendwo in einem winzigen Winkel seines Hundedenkens wollte er nichts anderes als leben, überleben. Sich in dieser Nacht unter einem eisigen Mond zum Sterben niederzulegen, kam ihm nicht einmal einen flüchtigen Moment lang in den Sinn. Er würde seiner Nase folgen, und sie würde ihn an einen besseren Ort bringen.
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Rick Doyle war kein typischer Hundefänger. Seit seinem achten Lebensjahr interessierte er sich für historische Themen und hatte besonders an der Geschichte des amerikanischen Bürgerkrieges Gefallen gefunden. Jahr für Jahr war sein Interesse an dem Thema gewachsen, inspiriert von guten Lehrern und dem Stapel Geschichtsbücher, die ihm sein Großvater hinterlassen hatte, und so hatte es auch überhaupt nicht infrage gestanden, welches Hauptfach er im College belegen würde. Doch als er mit seiner Ausbildung fertig war, war die Welt über ihm zusammengebrochen wie ein Haufen loser Ziegelsteine. Den Kredit für sein Studium konnte er nicht zurückzahlen, und seine Leidenschaft für Geschichte reichte nicht aus, um die Miete zu bezahlen. Damals sah er eine Stellenanzeige der Animal Services in Chico, Kalifornien, etwa
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