Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht
nach ihr aus, hütete mich aber, sie noch einmal anzufassen, als ich ihrem Blick begegnete. »Warte«, sagte ich leise.
Fast zu meiner Überraschung blieb sie tatsächlich stehen, allerdings deutlich außerhalb ihrer Fluchtdistanz, und der Blick, mit dem sie mich maß, war auch nicht unbedingt freundlich.
»Wegen gerade«, begann ich unbeholfen. »Ich … es tut mir Leid. Ich wollte nicht …«
Judiths Blick flackerte einen Moment lang und wurde dann weich. »Schon gut«, sagte sie. »Ich wäre wahrscheinlich genauso erschrocken wie du, wenn ich dabei… zugesehen hätte.« Sie hob die Schultern. »Vergessen wir’s einfach, okay?«
Nein, es war ganz und gar nicht okay. Ich wollte es nicht einfach vergessen. Aus irgendeinem Grund lag mir viel daran, keinen schlechten Eindruck bei ihr zu hinterlassen, aber das konnte ich ja schlecht sagen. Also nickte ich.
»Schwamm drüber.«
Wir gingen zum Tisch und setzten uns; Ellen und Stefan auf die gleichen Plätze, die sie schon vorhin innegehabt hatten, während sich Judith einen Stuhl vom Nebentisch heranzog und zwischen mir und Maria Platz nahm; aber mir war nicht ganz klar, ob sie nun nahe bei mir oder so weit von Stefan weg sitzen wollte, wie es ging.
»Ich glaube, ein Kaffee würde uns jetzt allen gut tun«, schlug Ellen vor. Sie hob die Hand und winkte dem Wirt zu und er reagierte mit einem zustimmenden Nicken. Nicht dass sie besonders laut gesprochen hätte.
»Und — Ed: Sie sollen die Polizei mitbringen.«
»Polizei?« Maria klang erschrocken.
»Das ist Vorschrift, wenn jemand außerhalb des Krankenhauses unerwartet stirbt«, sagte Ellen beruhigend. »Keine Bange. Wir müssen nur so lange hier bleiben, bis sie unsere Aussagen protokolliert haben. Reine Routine.«
»Ich wüsste auch nicht, wohin ich gehen sollte«, murrte Stefan. Er sah missmutig in die Runde. »Hat einer von euch einen Vorschlag, was wir jetzt tun? Ich meine: Ohne Flemming sind wir ziemlich aufgeschmissen, oder?«
»Der Mann ist tot«, sagte Ellen stirnrunzelnd.
»Und er war der Einzige, der uns hätte sagen können, wie’s jetzt weitergeht«, nörgelte Stefan.
»Ich glaube nicht, dass er ganz absichtlich gestorben ist, um uns zu ärgern«, sagte Judith. »Also halt die Klappe und bestell dir ein Bier. Irgendjemand wird hier schon auftauchen und uns sagen, wie es weitergeht.«
»Was ist mit dem Computer?« Ed hatte sein Telefonat beendet und kam näher, einen meiner Meinung nach ziemlich unangemessenen Ausdruck von Zufriedenheit auf dem Gesicht und ein frisch gezapftes Bier in der rechten Hand. Der Anblick ließ mir schier das Wasser im Mund zusammenlaufen.. Fast explosiv hatte ich plötzlich einen regelrechten Heißhunger auf ein Bier. Aber dies war wahrscheinlich nicht der richtige Moment. Natürlich hatte Ellen Recht, und was jetzt kam, war reine Routine, aber wir hinterließen wahrscheinlich keinen wirklich guten Eindruck, wenn wir die Fragen der Beamten mit einer Bierfahne beantworteten.
Als niemand antwortete, zog sich Ed einen Stuhl heran und fuhr fort: »Flemmings Notebook. Es ist noch eingeschaltet. Wahrscheinlich steht da alles drin, was wir wissen wollen.« Er warf einen fragenden Blick in die Runde.
»Versteht einer von euch was von Computern?«
»Ich.« Stefan stand auf und grinste verlegen. »Da hätte ich auch von selbst drauf kommen können.«
»Das wirst du schön bleiben lassen«, sagte Ellen.
Stefan blinzelte. »Wieso?«
»Wir sollten da drinnen lieber nichts anfassen«, antwortete Ellen, während sie ihm gleichzeitig mit einer wedelnden Handbewegung bedeutete, sich wieder zu setzen. »Die Polizei schätzt so etwas gar nicht, wisst ihr?
Ich habe keine Lust, eine Menge ebenso überflüssiger wie dummer Fragen zu beantworten.«
»Fragen?« Judith kniff die Augenbrauen zusammen.
»Wieso?«
»Weil es hier um eine Menge Geld geht, Schätzchen«, antwortete Ellen. »Und wenn einer von uns aus der Reihe tanzt, könnte das für uns alle das Aus bedeuten. Hast du schon mal daran gedacht?«
»Das Aus? Wieso?«
»Sie hat Recht«, pflichtete ihr Ed bei. »Schon vergessen, dass wir eben erst aus ganz verschiedenen Himmelsrichtungen angekommen sind? Wenn die Bullen dann noch spitzkriegen, dass es um jede Menge Kohle geht, stellen sie wer weiß was für Vermutungen an.«
»Ja — und?«, erkundigte sich Stefan. Meine linke Hand juckte. Ich kratzte beiläufig mit den Fingernägeln daran und sah aufmerksam in Ellens Gesicht. Im Moment fiel es mir ebenfalls schwer, ihrem
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