Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht
sie nicht gesehen?« Ein allgemeines Kopfschütteln, abgesehen von Maria, die einfach nur dasselbe tat wie die ganze Zeit und stumm dasaß und an dem Kunststück arbeitete, gleichzeitig anwesend und zugleich irgendwie auch unsichtbar zu sein, und Zerberus fuhr fort: »War mal ein Kloster und bis vor ein paar Jahren eine teure Privatschule. Heute steht die Bude leer, aber ab und zu vermieten sie ein paar Zimmer.« Er starrte uns der Reihe nach und Beifall heischend an. Als die erwartete Lobeshymne nicht kam, fuhr er in leicht verschnupftem Ton fort: »Ich sollte euch sowieso hinbringen. Später, nachdem ihr mit Flemming gesprochen habt.«
»Das hat sich ja dann wohl erledigt«, nörgelte Ed.
»Wieso?«, fragte Stefan. »Ich meine: Willst du auf dem Fußboden schlafen? Oder draußen auf der Straße?«
»Wie kommen wir überhaupt von hier weg?«, fragte ich rasch, als ich das ärgerliche Aufblitzen in Eds Augen bemerkte. Eduard war gut im Austeilen, aber nicht besonders humorvoll, wenn es ums Einstecken ging. Nicht dass ich ihm irgendetwas schuldig war, aber ein Streit war im Moment so ziemlich das Letzte, was wir noch brauchten, um den Tag endgültig zu krönen. »Ich nehme nicht an, dass es einen Bahnhof hier gibt, oder?«
»Morgen früh fährt ein Schulbus«, antwortete Zerberus.
»Der nimmt euch mit, wenn ihr wollt. Darf er eigentlich nicht, aber ich kenne den Fahrer. Wenn ich ein gutes Wort für euch einlege, dann …«
Das Klingeln des Telefons unterbrach ihn. Er hörte auf, an seinem Glas herumzuwienern — nicht dass er es aus der Hand legte; er packte nur Glas und Putzlappen mit einer Hand, wobei er mit dem Daumen in das Glas hineingriff und einen sichtbaren Fingerabdruck hinterließ —, griff mit der frei gewordenen Hand nach dem Telefonhörer und klemmte ihn sich zwischen Schulter und Ohr, um wieder beide Hände zum Gläserpolieren frei zu haben. Beiläufig nahm ich mir vor, Ellen einmal zu fragen, ob es eine Krankheit gibt, die es dem Betroffenen unmöglich macht, die Hände still zu halten.
»Ja?« Zerberus runzelte die Stirn, lauschte in den Hörer und sah dann in unsere Richtung, wobei ihm fast das Telefon zwischen Ohr und Schulter herausgerutscht wäre.
All unsere Aufmerksamkeit richtete sich plötzlich auf ihn, während er fortfuhr, eine Molekülschicht nach der anderen von seinem Glas zu polieren und alle paar Sekunden auf die unhörbare Stimme am anderen Ende der Leitung zu antworten.
»Ja, die sind noch hier — kein Problem … nein, ganz klar
… ich richte es aus … mache ich.«
»Was machen Sie?«, fragte Ellen, nachdem er eingehängt und sein Glas erneut mit beiden Händen ergriffen hatte.
Zerberus genoss es sichtlich, erst mal nicht zu antworten.
Stattdessen stellte er das Glas mit einer fast zeremoniell wirkenden Geste auf die Theke vor sich, faltete das Tuch sorgsam zu einem Dreieck (das er dann achtlos hinter sich warf) und sah dann jeden Einzelnen von uns eine geschlagene Sekunde lang an, ehe er sich dazu herabließ, Ellens Frage zu beantworten. »Euer Problem hat sich erledigt, Freunde«, sagte er. »Wenigstens für heute Nacht.«
»Ach?« Ellen lächelte, aber in ihrer Stimme war ein neuer, nicht unbedingt duldsamer Unterton, den mit Ausnahme des übrig gebliebenen Woodstock-Veteranen wohl alle registrierten.
»Das war jemand von dieser Kanzlei«, fuhr Zerberus mit einer wedelnden Handbewegung auf das Telefon fort. »Ich soll euch zum Internat hochfahren. Die warten da anscheinend schon auf euch.«
»Die?«, fragte Ed.
»Wer hat angerufen?«, schoss Ellen hinterher.
»Keine Ahnung«, antwortete Zerberus — was anscheinend die Antwort auf beide Fragen war. »Ich soll euch jedenfalls gleich hinbringen.«
»Und was ist mit Flemming?«, fragte ich.
»Keine Ahnung«, sagte Zerberus noch einmal. »Ich soll euch nur ausrichten, dass ihr euch keine Sorgen zu machen braucht. Es wird alles geregelt.«
»Ich glaube nicht, dass die Polizei …«, begann Ellen.
»Mit denen komme ich schon klar«, unterbrach sie Zerberus. »Und wenn sie noch Fragen haben, wissen wir ja, wo ihr seid.« Er wischte sich die Handflächen an seinen schmierigen Jeans ab, womit er sie höchstens noch dreckiger machte, und kam mit albern aussehenden kleinen Schritten hinter der Theke hervor. »Ich hole den Wagen.
Sucht schon mal eure Klamotten zusammen. Ich kann den Laden nicht ewig geschlossen lassen.«
Er wartete keine Antwort ab, sondern verschwand durch die Ausgangstür und ließ sechs ziemlich
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