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Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht

Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht

Titel: Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
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Straße vorbeifuhren, an Hotelbars und Werbespots. Diese Stille war etwas Neues für mich, das mich erschreckte, weil ich es nicht kannte und es ungewohnt war, das war alles.
    Aber es funktionierte nicht. Die Dinge, mit denen ich mich zu beruhigen versuchte, mochten logisch durchaus richtig sein, aber diese unheimliche Situation hatte nichts mit Logik zu tun, und Logik half nicht, um diese völlig irrationale Furcht zu bekämpfen, die nicht nur von mir Besitz ergriffen hatte. Den anderen erging es ganz genauso, und vielleicht war es diese Erkenntnis, die mich am meisten beunruhigte: Stefan blickte eindeutig nervös in die Runde, und auch Ed, dieser ewige Quassler, war verstummt. Einzig Ellen versuchte irgendwie die Ungerührte zu spielen, aber es gelang ihr nicht wirklich.
    Meine Hand juckte. Ich kratzte fast unbewusst mit den Fingernägeln über die betreffende Stelle und wurde mit einem dünnen, aber tief gehenden Schmerz belohnt, der sich wie eine winzige Nadel in das empfindliche Fleisch zwischen Daumen und Zeigefinger bohrte. Erschrocken zog ich die Finger zurück und betrachtete meine linke Hand. In dem praktisch nicht mehr vorhandenen Licht war die brennende Stelle kaum zu erkennen, aber ich erinnerte mich: Irgendetwas hatte mich getroffen, als ich drinnen bei Flemming gewesen war und zugesehen hatte, wie ihm der Schädel wegflog. Sicher nur ein Holzsplitter. Später, wenn wir oben im Internat waren und ich meine Ruhe hatte, würde ich eine Nadel suchen und ihn herauspulen. Der Gedanke an die Prozedur, die bestimmt nicht ohne erhebliche Schmerzen abgehen würde, bereitete mir schon jetzt Unbehagen, aber ich wusste auch aus eigener leidvoller Erfahrung, dass es sein musste. Es gibt kaum etwas Unangenehmeres als einen Splitter, den man sich eingefangen hat und der sich mit jeder Bewegung tiefer ins Fleisch gräbt.
    Außerdem war ich doch ein tapferer Bursche, dem ein bisschen Schmerzen nichts ausmachten, oder? Hinterher konnte ich mich wenigstens ein bisschen wie ein Held fühlen.
    Ich spürte Judiths — zugleich fragenden wie leise besorgten — Blick, reagierte mit einer Mischung aus einem Lächeln und einem angedeuteten Kopfschütteln darauf und senkte die Hand in einer Bewegung, die so hastig war, dass sie einfach nicht anders als schuldbewusst wirken konnte.
    Der Splitter tat nicht mehr weh, aber die Hand begann nun heftig zu jucken. Möglichst so, dass Judith es nicht sah (aber natürlich sah sie es trotzdem, denn schließlich gibt es kaum eine bessere Methode, aufzufallen, als der Versuch, etwas besonders unauffällig zu tun), rieb ich die Hand an meinem Oberschenkel und drehte mich schließlich demonstrativ weg, um ihrem fragenden Stirnrunzeln zu entgehen.
    Judith verspielte in diesem Moment wieder eine Menge von den Sympathien, die ich mittlerweile für sie empfand.
    Irgendwie mochte ich sie, soweit man das von einem Menschen sagen konnte, den man erst seit einer guten Stunde kannte, aber ich war nicht sicher, ob sie nicht eine potenzielle Nervensäge war; jene Art von fürsorglicher Mama, die einen mit ihrer Gluckenhaftigkeit zuerst auf die Nerven ging und einen dann zu erdrücken begann. Pummelchen. Vielleicht sollte ich sie in Gedanken doch weiter so nennen, auch wenn es unfair war. Aber es schreckte wenigstens ab.
    Wie lange standen wir jetzt hier draußen und warteten darauf, dass der Wirt zurückkam? Sicher nicht mehr als eine Minute, wahrscheinlich nicht einmal annähernd lange genug, um Zerberus Zeit zu geben, zu seiner Garage zu eilen und den Wagen zu holen. Mir kam es trotzdem wie eine kleine Ewigkeit vor, und dennoch ein messbares Stück weiter auf dem Pfad der Entropie, hin zu dem Ziel aller Dinge, das Hoffnungslosigkeit hieß.
    Ich schüttelte den Kopf. Was waren das für Gedanken?
    Meine eigenen wohl kaum. Ich hatte noch nie viel mit Philosophie im Sinn gehabt, schon gar nicht mit dieser Art von Pseudophilosophie, und Depressionen überkamen mich allenfalls in den letzten acht oder zehn Tagen des Monats, wenn ich meinen Kontostand betrachtete und auf den nächsten Ersten wartete; das allerdings mit schöner Regelmäßigkeit. Es musste an diesem sonderbaren Ort liegen (und so ganz nebenbei sicher auch an der bizarren Situation, in der wir uns befanden), an meiner Übermüdung und Nervosität und vielleicht auch an der dünnen, aber penetranten Stimme in meinem Inneren, die mir beharrlich zuflüsterte, dass ich mich vielleicht etwas vorschnell als Sieger fühlte; Hochmut kam schließlich

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