Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht
Andeutung eines Lächelns erschien, das sie mir noch unsympathischer machte. Ich griff nach meiner Tasche, warf sie mir mit einer deutlich weniger eleganten Bewegung als zuvor Ellen über die Schulter und gesellte mich zum Rest der Gruppe, die sich mittlerweile komplett vor der Tür versammelt hatte. Stefan schlug den roten Samtvorhang zur Seite und öffnete in der gleichen Bewegung die Tür.
Kalte Luft und Nässe strömten herein, und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass auch die Dunkelheit unsichtbar und lautlos durch die Bresche strömte, die Stefan unabsichtlich in unsere Verteidigung gerissen hatte. Hastig verscheuchte ich den Gedanken, ließ die alberne Tasche von der Schulter gleiten und reihte mich als Letzter in die Schlange ein, die in einer absurd disziplinierten Reihenfolge die Taube verließ.
Bevor ich auf die Straße hinaustrat, sah ich noch einmal zu der geschlossenen Schiebetür zurück, hinter der Flemmings sterbliche Überreste darauf warteten, abgeholt zu werden. Es war kein angenehmes Gefühl. Ich hatte wenig Erfahrung in solcherlei Dingen, aber ich nahm einfach an, dass es immer bedrückend ist, einen Toten in seiner Nähe zu wissen, doch das hier war etwas anderes. Ich hatte das völlig verrückte Gefühl, Flemming im Stich zu lassen — als ob er noch irgendwelche Hilfe bräuchte oder auch nur etwas damit anfangen könnte.
Vielleicht lag es einfach an Marias kleinem Auftritt gerade. Ich hatte mir eingebildet, ihren Ausbruch als ebenso deplatziert und albern zu empfinden wie alle anderen auch, und bis zu diesem Moment glaubte ich das sogar selbst, aber die Worte hatten etwas in mir bewirkt. Für eine einzelne Sekunde musste ich gegen die absurde Vorstellung ankämpfen, dass die Schiebetür aufgehen und ein kopfloser Flemming heraustorkeln müsse, um sich mit blutig blubbernder Stimme über den Verrat zu beschweren, den wir ihm angedeihen ließen, oder um uns auch gleich mit Knochensplittern zu bewerfen; ich hatte keine Ahnung, wie nachtragend und rachsüchtig kopflose Leichname im Allgemeinen waren.
Ich verscheuchte auch diesen Gedanken, drehte mich mit einem Ruck endgültig herum und verließ als Letzter die Taube.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, als ob es noch dunkler geworden wäre, als ich auf die Straße hinaustrat. Vielleicht war es das auch tatsächlich: In den Häusern rechts und links der Straße hatten bereits bei meiner Ankunft nur sehr wenige Lichter gebrannt. Jetzt waren auch davon noch etliche erloschen — auch wenn ich nicht sagen konnte, welche — und mit dem Licht schien auch jegliches Leben aus unserer unmittelbaren Umgebung geflohen zu sein. Es war still; so völlig still, dass es schon beinahe unheimlich war. Nirgends rührte sich etwas, und das im wortwörtlichen Sinne. Ich hatte in einem Ort wie Crailsfelden gewiss kein tobendes Nachtleben erwartet, aber diese vollkommene Leblosigkeit war bedrückend. Selbst der Wind war zum Erliegen gekommen, und die Sterne glitzerten am Himmel wie winzige funkelnde Wunden, durch die das Leben aus der Welt herausfloss; langsam, aber mit der unerbittlichen Unaufhaltsamkeit einer Naturgewalt. Entropie. Ich konnte nicht sagen, warum mir dieses Wort ausgerechnet jetzt in den Sinn kam. Ich kannte es und wusste natürlich, was es bedeutete, aber mir war noch nie so sehr zu Bewusstsein gekommen, welch bedrohlichen Zustand es beschrieb — erfüllt von einer Hoffnungslosigkeit, die einem den Atem nahm. Der Punkt, auf den das Leben letztendlich zusteuerte und hinter dem es nichts mehr gab, nicht einmal mehr Furcht oder Schmerz.
Und ich schien nicht der Einzige aus unserer Gruppe zu sein, der ähnlich fühlte. Noch immer in der gleichen disziplinierten Reihenfolge, in der wir die Taube verlassen hatten, nahmen wir längs des Bürgersteiges Aufstellung wie eine Gruppe Erstklässler, die auf den Schulbus wartet.
Zerberus war verschwunden, wenn auch vermutlich nur, um eine Fahrgelegenheit zum Internat hinauf zu organisieren. Niemand sagte etwas, aber Judith rückte ganz instinktiv ein Stück näher an mich heran, als spürte auch sie, dass hier etwas vorging, was nicht richtig war.
Ich versuchte den Gedanken zu verscheuchen oder ihn zumindest als so lächerlich abzutun, wie er ja auch war; ich war ein Großstadtmensch, an das brodelnde Nachtleben und den Lärm San Franciscos und anderer amerikanischer Großstädte gewöhnt, an Fernseher, die niemals ausgeschaltet wurden, und an den Lärm der Millionen und Abermillionen Autos, die auf der
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