Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht
vor dem Fall.
Wo blieb dieser verdammte Wirt mit dem Wagen? Noch fünf Minuten hier draußen in der Stille und Dunkelheit und ich war reif für die Klapse! Philosophie? Wohl eher Hysterie.
Ich griff (mit der unverletzten Hand) in die Tasche und suchte nach Zigaretten, fand aber keine. Ed wollte ich nicht danach fragen und wahrscheinlich lohnte es sich auch nicht mehr. Irgendwann würde Zerberus ja wiederkommen und uns einladen. Unschlüssig drehte ich mich herum (wobei ich genau darauf achtete, Judiths Blick auszuweichen, und das möglichst so, dass es ihr nicht auffiel) und ließ meinen Blick über die leer und dunkel daliegende Straße schweifen. Der erste Eindruck, den ich von Crailsfelden gewonnen hatte, schien sich zu bestätigen — aber vermutlich tat ich der Stadt Unrecht. Es war so dunkel, dass man nicht einmal die Häuser auf der anderen Straßenseite richtig erkennen konnte, vom Rest des Ortes ganz zu schweigen.
»Ich frage mich, ob es hier immer so still ist«, murmelte Stefan. »Das ist ja richtig unheimlich.«
Ed hob die Schultern. »Vielleicht haben sie sich mit den Strommultis überworfen. Mir wäre es auch zu mühsam, die ganze Zeit auf dem Hometrainer zu sitzen und den Dynamo auf Touren bringen zu müssen, nur weil ich fernsehen möchte.«
»Kommt drauf an«, sagte Stefan achselzuckend. »Bei der Sportschau kommt so wenigstens das richtige Feeling auf.«
Niemand lachte. Der Scherz war nicht nur schal, sein Zweck war auch zu offensichtlich. Die beiden pfiffen, während sie die Kellertreppe hinuntergingen, aber es funktionierte nicht.
»Es gibt hier kein Problem mit elektrischem Strom, ob ihr’s glaubt oder nicht.«
Ich war nicht der Einzige, der sich überrascht herumdrehte, als sich ausgerechnet Maria Graumaus zu Wort meldete.
Ihre Stimme hatte einen leicht aggressiven Unterton, fast schon zornig, der aber von dem furchtsamen Beben darin vollkommen zunichte gemacht wurde.
»Das war ein Scherz, Liebchen«, sagte Ellen sanft.
»Aber ein schlechter.« Marias Augen blitzten. »Die Leute hier gehen eben früh schlafen. Aber dafür stehen sie auch früh auf und arbeiten hart.« Ganz im Gegensatz zu einigen der Anwesenden, fügte ihr Blick hinzu.
»Mit den Hühnern ins Bett und mit dem Hahn wieder raus.« Ellen lächelte zuckersüß. »Nichts für mich.«
»Dieses ständige Picken auf den Hinterkopf ist lästig, nicht wahr?«, griente Ed.
Gottlob erscholl in diesem Moment das Geräusch, auf das nicht nur ich schon sehnsüchtig wartete: das metallische Rasseln eines schweren Dieselmotors, der mühsam und erst beim dritten Versuch ansprang. Wer weiß, mit welchen Zoten uns Ed sonst noch erfreut hätte …
Ich nahm meine Tasche auf und wandte mich in die Richtung, aus der das Motorengeräusch kam. Es verging aber noch beinahe eine Minute, ehe sich zu dem stotternden Dieseln der asymmetrische Lichtkegel eines Scheinwerferpaares gesellte. Einen Moment später schob sich ein uralter, aber sehr großer Landrover aus einer Lücke zwischen der Taube und dem Nachbargebäude heraus, die mir bisher kaum breit genug vorgekommen war, um ein etwas größeres Motorrad durchzulassen. Zerberus — ich musste mich unbedingt nach seinem Namen erkundigen, ansonsten würde ich ihn garantiert irgendwann mit Zerberus ansprechen — Zerberus (oder wie immer er auch hieß) steuerte den Wagen in einer haarsträubend engen Kehre herum, die ihn buchstäblich Millimeter an der Wand vorbeiführte und jahrelange Übung verriet, brachte den Wagen mit einem unnötig harten Tritt auf die Bremse direkt vor Eds Cowboystiefeln zum Stehen und stieg aus.
»Hat einen Moment gedauert«, sagte er, wobei er uns mit einem Blick maß, der jeden möglichen Protest schon von vornherein im Keim erstickte. »Ich musste den Wagen erst aus der Garage holen.«
»Sie benutzen ihn nicht sehr oft«, vermutete Ellen.
Zerberus verzichtete auf eine Antwort, ging mit schnellen Schritten um den Wagen herum und öffnete die Hecktür.
Wo ich die Ladeklappe erwartet hatte, befand sich eine zusätzliche Sitzbank, die im Moment allerdings zusammengefaltet war wie das Meisterstück eines Origami-Künstlers.
Als Zerberus sie hochklappte, wirbelte muffig riechender Staub hoch.
»Wie viele Sitzplätze hat das Ding?«, fragte Ed misstrauisch.
»Sieben«, grummelte Zerberus.
»Plus das Gepäck.« Ed schielte auf Marias containergroßen Schrankkoffer, aber das beeindruckte unseren Fahrer auch nicht sonderlich.
»Es ist nicht sehr weit«, sagte er.
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