Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht
Natürlich — nichts in Crailsfelden war sehr weit. Der ganze Talkessel, in dem das Kaff lag, maß meiner Schätzung nach keine drei Kilometer.
»Nur ein paar Minuten. Für das kurze Stück wird’s schon gehen.« Er hob die Schultern. »Ihr könnt das Gepäck auch hier lassen und morgen holen.«
Ed seufzte. »Schon gut. Wahrscheinlich haben Sie Recht — für die paar Minuten wird es schon gehen.«
Er hatte Recht. Es ging — aber wie. Zerberus und Ellen, die sich mit aller Selbstverständlichkeit der Welt auf den Beifahrersitz neben ihm schwang, noch bevor irgendeine Diskussion über die Sitzordnung losgehen konnte, waren wahrscheinlich die Einzigen, die es halbwegs bequem hatten. Ed, Judith und ich quetschten uns auf die mittlere Sitzbank, während Stefan, Maria und vor allem ihr Koffer mit den beiden Notsitzen hinten im Wagen vorlieb nahmen.
Ohne das Gepäck wäre es vielleicht noch halbwegs erträglich gewesen; mit sieben Personen und sechs mehr oder weniger sperrigen Koffern und Reisetaschen im Gepäck allerdings begann ich bald zu begreifen, wie sich eine Sardine in ihrer Dose fühlen mochte. Ich hatte Mühe, die Tür neben nur zu schließen; der Griff bohrte sich so unsanft in meine Rippen, dass ich kaum noch Luft bekam, und Stefan, der von der anderen Seite aus in den Landrover geklettert war, beanspruchte mit seinen breiten Schultern so viel Platz, dass Judith zwischen uns nahezu zerquetscht wurde.
Zerberus überzeugte sich mit einem Blick in den Innenspiegel davon, dass wir alle anwesend und die Türen geschlossen waren, dann legte er den Gang ein und fuhr mit einem ebenso unnötig harten Ruck los, wie er gerade angehalten hatte. Marias Schrankkoffer prallte mit solcher Wucht gegen die Lehne hinter mir, dass ich Zerberus möglicherweise unfreiwillig die Zähne in den Nacken gegraben hätte, wäre ich nicht zwischen Judith neben mir und meiner Reisetasche vor meinen Schienbeinen so eingequetscht gewesen, dass mir ohnehin kaum genug Platz blieb, um zu atmen. Judith ächzte vor Schmerz und Überraschung. Sie wurde so heftig gegen mich geworfen, dass ich spüren konnte, dass sie unter ihrer Windjacke und dem T-Shirt keinen BH trug. Ihr musste ebenfalls klar sein, dass ich es gemerkt hatte, denn sie maß mich mit einem ebenso entschuldigenden wie leicht verlegenen Blick. Dennoch hatte ich nicht das Gefühl, dass ihr das kleine Missgeschick wirklich unangenehm war.
»Entschuldigung«, brummelte Zerberus. »Die Kupplung ist nicht mehr die Jüngste.«
»Na, das passt doch«, maulte Ed.
Zerberus quittierte die Bemerkung mit einem giftigen Blick in den Spiegel, und der nächste Ruck, der uns alle durchschüttelte, als er schaltete, hatte ganz bestimmt nichts mit der altersschwachen Kupplung zu tun. Ed war klug genug, sich dieses Mal jeden Kommentar zu sparen, und zumindest in einem Punkt hatte unser Chauffeur die Wahrheit gesagt: Es war in der Tat nicht sehr weit.
Zwischendurch musste ich wohl kurz eingenickt sein — so unglaublich es mir auch selbst vorkam, denn ich erinnerte mich nicht mehr genau an die Strecke, die wir fuhren.
Aber es konnte nicht lange gewesen sein; Crailsfelden war einfach nicht groß genug, um länger als ein paar Sekunden zu schlafen, selbst bei einer kompletten Umrundung. Wir bogen zwei- oder dreimal ab und fuhren auf der Verlängerung der Straße stadtauswärts, auf der ich vor einer knappen Stunde mit dem Taxi hergekommen war. Statt Crailsfelden jedoch zu verlassen, hielt Zerberus nach einem knappen Kilometer wieder an — unnötig zu erwähnen, dass er dabei so hart auf die Bremse trat, dass wir alle wieder nach vorne geworfen wurden. Ed spießte ihn mit Blicken regelrecht auf, aber er hielt zu meiner Erleichterung wenigstens diesmal die Klappe. Hinter uns ächzte Stefan hörbar, als er zum zweiten Mal von Marias Schrankkoffer nahezu zerquetscht wurde, und auch Judith wurde zum zweiten Mal und auf die gleiche Art wie zuvor unsanft gegen mich gepresst. Diesmal sah ich sie einen Moment länger an, aber sie erwiderte meinen Blick ruhig und auf eine fast herausfordernde Art.
Nein. Ich verbesserte mich in Gedanken. Nicht fast, sondern ganz eindeutig und auf eine Weise, die eine Bereitschaft implizierte, gegen die ich unter anderen Umständen sicher nichts gehabt hätte, die ich im Moment aber als höchst unangebracht empfand. Vor nicht einmal einer Stunde war vor unseren Augen ein Mensch gestorben und trotz des überraschenden Anrufes war unser aller Zukunft höchst ungewiss, und
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