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Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht

Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht

Titel: Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
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noch mit Mühe ihre Selbstbeherrschung zu wahren. Mir hingegen tat von Thun mittlerweile einfach nur Leid. Der Mann war sichtlich überfordert — vorsichtig ausgedrückt. Während er noch weiter herumdruckste und immer angestrengter (und vergeblicher) nach Worten suchte, stand ich rasch auf, ging um den Tisch herum und streckte ihm die Hand entgegen.
    »Vielleicht sollten wir uns erst einmal vorstellen«, sagte ich. »Mein Name ist Gorresberg. Frank Gorresberg.«
    »Ich weiß.« Von Thun erwiderte meinen Händedruck mit unerwarteter Kraft. »Ich bin über Ihre Personalien informiert. In den Unterlagen, die Herr Flemming mir zur Verfügung gestellt hat, befinden sich auch Lichtbilder und ein kurzer Lebenslauf, müssen Sie wissen.« Lichtbilder. Ich konnte mich gar nicht mehr erinnern, wann ich diesen Ausdruck das letzte Mal gehört hatte.
    »Wir müssen etwas ganz anderes wissen«, nörgelte Ed, aber ich ignorierte ihn, ergriff von Thun kurzerhand mit der freien Linken am Ellbogen, ohne seine andere Hand dabei loszulassen, und dirigierte ihn mit sanfter Gewalt auf einen der beiden frei gebliebenen Stühle neben Maria. Er leistete keinen Widerstand, setzte sich aber nicht, sondern warf nur seinen Ordner auf den Tisch und stützte sich mit beiden Händen schwer auf die Rückenlehne des Plastikstuhls. Das dünne Material begann sich unter seinem Gewicht zu verformen und er ließ los und richtete sich erschrocken wieder ein wenig auf.
    »Bitte, Herr von Thun«, sagte Ellen. »Ich möchte nicht unhöflich sein, aber …«
    »Ich verstehe.« Von Thun nickte nervös und ungefähr ein halbes Dutzend Mal hintereinander, streckte die Hand nach seinem Ordner aus und zog den Arm dann wieder zurück, ohne ihn berührt zu haben. »Also gut, ich werde versuchen, Sie aufzuklären, so weit mir das möglich ist.« Er räusperte sich. »Inwieweit hat Herr Flemming Sie bereits unterrichtet, wenn ich fragen darf?«
    »So gut wie gar nicht«, sagte Judith.
    »Wir werden reich«, fügte Ed hinzu.
    »Nun, zumindest zwei von Ihnen«, antwortete von Thun.
    »Vielleicht auch mehrere.«
    »Was genau soll das heißen?«, fragte Ed misstrauisch.
    Von Thun wirkte verlorener denn je. Seine Hände kneteten die Rückenlehne des Gartenstuhls, aber irgendwie hatte ich trotzdem das Gefühl, dass er Ed für seine Frage im Stillen dankbar war. Ich hatte selten jemanden getroffen, der so gründlich die Orientierung verloren hatte wie er in diesem Moment. »Ich sehe schon, ich muss ein wenig weiter ausholen«, seufzte er, während er sich bereits setzte und mit der linken Hand einen Stapel eng beschriebener Computerausdrucke aus seinem Ordner nahm und mit der anderen eine winzige randlose Brille aus der Westentasche zog, die er mit einem gekonnten Schwung auseinander klappte und aufsetzte. »Die Kanzlei Flemming & Sohn vertritt seit mittlerweile vier Generationen die Interessen der Familie Sänger, die in der Vergangenheit hier in Crailsfelden ansässig war. — Hat einer der Herrschaften schon einmal den Namen Sänger gehört?«
    Alle — mit Ausnahme Maria — schüttelten den Kopf.
    Maria nickte nicht direkt, aber irgendwie signalisierte sie Zustimmung, ohne auch nur eine Miene zu verziehen.
    »Sänger?« Judith runzelte die Stirn. »Irgendwie kommt mir dieser Name bekannt vor.«
    »Zerberus hat ihn nicht erwähnt«, sagte ich.
    »Sänger-Institut«, erklärte Maria in ihrem schulmeisterlichen Ton. »So hieß das Internat, das hier untergebracht war.« Dann runzelte sie die Stirn. »Aber wen meinen Sie mit Zerberus?«
    »Unseren freundlichen Chauffeur«, antwortete ich. »Den Wirt aus der Taube.«
    »Carl.« Maria nickte. Sie versuchte ein Lächeln zu unterdrücken, aber es gelang ihr nicht ganz. »Den Namen habe ich noch nicht gehört, aber irgendwie passt er, finde ich.«
    »Das ist korrekt … das mit dem Institut meine ich.« Von Thun riss das Gespräch zusätzlich mit einer entsprechenden Geste wieder an sich. »Unter anderem hat die Familie Sänger auch dieses Kloster renoviert und durch eine großzügige Spende über nahezu drei Jahrzehnte einen Internatsbetrieb für hochbegabte Schüler hier aufrechterhalten.«
    »Wie interessant«, sagte Ed. »Und was haben wir damit zu tun?« Soweit es ihn anging, vermutlich weniger als nichts, dachte ich. Ed und ein Internat für Hochbegabte?
    Bestimmt nicht.
    Als hätte er meine Gedanken gelesen, drehte Ed den Kopf und sah mich kurz und fast feindselig an. Ich schenkte ihm das freundlichste Lächeln, das ich

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