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Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht

Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht

Titel: Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
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Art überrascht die Stirn, die mich nicht ganz sicher sein ließ, ob sich nicht das blanke Entsetzen dahinter verbarg. Alle anderen starrten den Neuankömmling einfach nur an.
    Ich sah das alles allerdings nur aus den Augenwinkeln.
    Ich hätte nicht einmal genauer hinsehen können, wenn ich es gewollt hätte, denn ich war viel zu sehr damit beschäftigt, das Gesicht des Mannes anzustarren, der hinter uns aufgetaucht war und nun mit langsamen, merkwürdig unsicher wirkenden Schritten auf uns zuschlurfte.
    »Wirklich, ich wollte Sie nicht erschrecken«, wiederholte der alte Mann. »Es tut mir ehrlich Leid. Aber dennoch: Einen schönen guten Abend und herzlich willkommen in Crailsfelden.«
    Er ging weit nach vorne gebeugt und mit hängenden Schultern, auf denen vielleicht ein paar Jahre mehr lasteten, als er zu tragen imstande war. Er trug einen dunkelgrauen dreiteiligen Anzug, der zweifellos maßgeschneidert war, aber auch sichtlich schon bessere Tage gesehen hatte, und bewegte sich auf eine leicht schlurfende Art, die nicht wirklich Schwäche ausdrückte, ihn aber trotzdem auf eine schwer greifbare Weise gebrechlich aussehen ließ; obwohl er das wahrscheinlich gar nicht war. Er hatte ein schmales, von Falten zerfurchtes Gesicht, aber wache Augen und Hände, die früher einmal wahre Pranken gewesen sein mussten und selbst jetzt noch stark wirkten, obwohl sie praktisch nur noch aus Knochen und Sehnen bestanden, die wie dünne blaue Stricke durch die grau gewordene Haut stachen. Unter dem linken Arm trug er einen jener altmodischen Ziehharmonikaordner, wie man sie früher oft in Büros benutzt hatte, und aus der Brusttasche seines Anzuges ragte die schwarzgoldene Kappe eines Montblanc-Füllers. Nachdem er pedantisch die Tür hinter sich geschlossen hatte, machte er noch zwei weitere Schritte in den Raum hinein, ehe er fast abrupt stehen blieb und sich nervös umsah. Auch wenn ich wusste, dass es nicht so war: Er wirkte überrascht, als wären wir so ziemlich das Letzte, was er hier zu finden erwartet hatte, aber auch zugleich ein wenig hilflos.
    »Guten Abend«, sagte er schließlich.
    Niemand antwortete. Der Mann wirkte irgendwie enttäuscht — hatte er erwartet, dass wir wie eine Schulklasse aufstehen und im Chor mit »Guten Abend« antworten würden?
    Der Fremde räusperte sich, trat noch eine oder zwei Sekunden lang linkisch von einem Fuß auf den anderen und straffte sich dann demonstrativ. »Ich muss mich für die Verspätung entschuldigen, aber …«
    »Jaja, schon gut«, unterbrach ihn Ed. »Wer sind Sie?«
    Der Ankömmling blinzelte. Ein betroffener Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. »Ich … äh … ja, natürlich, Entschuldigung«, stammelte er. »Wie … wie unaufmerksam von mir. Bitte verzeihen Sie, aber ich bin …«
    Er brach ab, und für einen Moment sah er so hilflos aus, dass er mir schon fast Leid tat. Ed schürzte abfällig die Lippen, verkniff sich aber gottlob jede weitere Bemerkung, und auch Ellen beließ es bei einem bezeichnenden Hochziehen der linken Augenbraue.
    »Von Thun«, sagte der Fremde. »Gero von Thun … aber das von können Sie getrost vergessen. Ich meine: Wir leben ja schließlich nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert, oder?«
    Ed verdrehte die Augen.
    »Stimmt«, sagte er, »und wer …?«
    »Oh, ja, natürlich.« Von Thun trat nervös von einem Fuß auf den anderen, wobei er fast seinen Ordner fallen gelassen hätte. »Ich … ähm … bin — war — der Assistent von Herrn Flemming. Zuerst von Herrn Flemming senior und später von Herrn Flemming junior. Ich bin — war — sozusagen sein …« Er suchte nach Worten.
    »Majordomus?«, schlug Ed grinsend vor.
    Von Thun wirkte noch irritierter und hilfloser, aber diesmal fing er sich deutlich schneller. »Bürovorsteher kommt der Sache wohl näher«, antwortete er. »Herr Flemming junior hatte mich gebeten, ihn auf diese Reise zu begleiten.
    Ursprünglich wollte er selbst kommen, aber er ist leider verhindert, sodass ich mich bereit erklärt habe, für ihn einzuspringen. Obwohl ich gestehen muss, dass …«
    »Dann sind Sie also derjenige, der uns endlich aufklären kann, was das alles hier zu bedeuten hat«, unterbrach ihn Stefan.
    »Ich kann es zumindest versuchen«, antwortete von Thun.
    »Aber ich bin selbst … wissen Sie, ich … ich bin eigentlich schon seit drei Jahren in Rente und helfe nur manchmal noch in der Kanzlei aus, wenn Not am Mann ist, und …«
    Ellen verdrehte abermals die Augen und auch Judith schien nur

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