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Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht

Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht

Titel: Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
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zustande bringen konnte, und wandte mich mit einem auffordernden Blick wieder an von Thun. »In den Briefen Ihrer Kanzlei stand etwas von einer Erbschaftsangelegenheit.«
    Ellen maß mich mit einem fast verächtlichen Blick, aber das war mir egal. Mein Einwurf hatte nichts mit meiner Geldgier zu tun (jedenfalls nicht nur); ich kannte Menschen wie von Thun hinlänglich, um zu wissen, dass wir morgen früh noch hier sitzen und uns die Geschichte der Familie Sänger anhören würden, wenn ihn nicht jemand bremste.
    »Das ist richtig«, sagte von Thun in leicht enttäuschtem Tonfall. Seine Finger blätterten in dem Papierstapel, aber er warf nicht einmal einen Blick darauf. »Wie gesagt: Unsere Kanzlei vertritt die Interessen der Familie Sänger seit vier Generationen — oder hat sie vertreten, um genau zu sein.«
    »Hat?«, fragte Stefan.
    »Das letzte Mitglied der Familie Sänger ist vor mehr als zehn Jahren gestorben«, sagte Maria.
    Diesmal war ich nicht der Einzige, der sie überrascht ansah. Einzig von Thun wirkte kein bisschen überrascht, sondern eher zufrieden. »Vor neunzehnhundertneunzig, um genau zu sein«, sagte er. »Mit Klaus Sänger ist der letzte Angehörige der Familie Sänger gestorben — zumindest der letzte Vertreter dieser Familie in direkter Linie.«
    »Und was tun wir dann hier?«, fragte Stefan.
    »Klaus Sänger hat ein Vermögen in nicht unbeträchtlicher Höhe hinterlassen«, antwortete von Thun. »Ich bin im Moment nicht befugt, Auskunft über die genaue Höhe der Vermögenswerte zu geben. Aber sie ist… nicht unbeträchtlich.«
    »Einigen wir uns doch einfach darauf, dass wir über ziemlich viel Geld reden«, schlug Ed vor. »Für den Gegenwert eines Abendessens bei McDonald’s hätten Sie uns kaum hierher zitiert, oder?«
    »Nein«, antwortete von Thun. »Sicher nicht.« Er wirkte irritiert. Ich war ziemlich sicher, dass er den Begriff McDonald’s in seinem ganzen Leben noch nicht gehört hatte.
    »Aber wieso dürfen Sie uns keine genaue Auskunft geben?«, hakte Ellen nach.
    »Wie gesagt: Ich muss etwas weiter ausholen«, antwortete von Thun. »Die direkte Familienlinie der Sängers endete zwar mit dem Tod von Klaus Sänger, aber damit hat sich unser Mandat noch nicht erledigt. Herr Flemming junior ist nicht nur Rechtsanwalt, sondern auch Notar, und in dieser Eigenschaft oblag ihm selbstverständlich auch die Abwicklung des Nachlasses.«
    »Endlich kommen Sie zur Sache«, sagte Ed.
    Von Thun warf ihm einen leicht irritierten Blick zu, ging aber nicht weiter auf die Bemerkung ein, sondern strich nur glättend mit den Fingerspitzen über die Papiere, die vor ihm auf dem Tisch lagen, und fuhr fort: »Mit Klaus Sänger hat die direkte Linie der Familie Sänger geendet, aber wie gesagt: Die Familie Sänger lebte seit dem frühen Mittelalter hier in Crailsfelden …«
    »… und Sie wollen uns jetzt erklären, dass wir um fünfundvierzig Ecken mit dem alten Zausel verwandt sind«, fiel ihm Ed ins Wort. Er machte eine unwillige Geste. »Wir sind also alle eine große glückliche Familie, wie? Ich glaube, so weit haben wir das alle auch schon verstanden.«
    »Ja, und leider kann man sich seine Verwandten ja nicht aussuchen«, murmelte ich.
    Ed starrte mich finster an, aber ich lächelte ihm nur zu, und auch Judith hatte alle Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken. Ich war nicht der Einzige, der Ed einen feindseligen Blick zuwarf. Er ging nicht so weit, direkt zu fragen: Wie viel bekommen wir? Aber die Frage stand wie mit roten Neonlettern auf seine Stirn geschrieben. Nicht dass es mir anders ergangen wäre. Natürlich interessierte uns alle im Grunde nur diese Frage. Aber Eds ständiges Genörgel war alles andere als produktiv. Wenn ihn niemand bremste, dann saßen wir möglicherweise noch morgen früh hier und warteten darauf, dass von Thun endlich die Katze aus dem Sack ließ.
    »So … könnte man es ausdrücken«, sagte von Thun irritiert. Er räusperte sich. »Ja, um … es auf einen Nenner zu bringen, Sie sechs hier sind die letzten Nachkommen der Familie Sänger, wenn auch teilweise wirklich — wie Sie es ausgedrückt haben — um vierzig Ecken. Klaus Sänger hat schon zu Lebzeiten niemals einen Zweifel daran aufkommen lassen, dass ihm daran gelegen war, sein Erbe nicht dem Staat oder irgendwelchen ominösen Institutionen anheim fallen zu lassen. Insofern oblag es also der Kanzlei Flemming & Sohn, die letzten Nachfahren der Familie ausfindig zu machen — was nicht leicht war, wie ich

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