Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht
keinen Deut von der Stelle. Ich fragte mich, wie weit die beiden gehen würden, um ihren Rollen treu zu bleiben. Vermutlich nicht bis zum bitteren Ende. Der Wirt war ein übrig gebliebener Hippie, der trotz seiner aufgesetzten Grantigkeit vermutlich niemals so weit gehen würde, Gewalt anzuwenden, und Eds herausfordernde Art war ganz genau die, hinter der sich gewöhnlich die größten Feiglinge verbergen.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Zerberus. »Ich soll euch nur herbringen, das ist alles, was ich weiß. Jemand wird sich um euch kümmern.«
»Jemand?«
»Keine Ahnung, wer«, antwortete Zerberus. »Ich kannte doch auch nur diesen Flemming. Wird schon jemand kommen.«
»Und Sie?«, fragte Ellen. »Was tun Sie jetzt?«
»Ich hole euer Gepäck«, antwortete Zerberus patzig.
»Aber nur, wenn ihr nichts dagegen habt. Ihr könnt den Kram natürlich auch liebend gerne selbst hochschleppen.«
»Schon gut«, sagte Judith hastig. »Ein heißer Kaffee ist genau das, was ich jetzt brauche. — Darf ich?«
Die Frage galt Ed, der sie nur verständnislos anblinzelte, dann aber bewusst langsam einen Schritt zur Seite trat, als Judith auf ihn zuging — und das auf eine Art, die keinen Zweifel daran aufkommen ließ, dass sie nicht anhalten würde. Dass Ed mit seinem hastigen Rückzug auch zugleich den Weg für Zerberus frei machte, war dabei ganz bestimmt kein Zufall. Der Wirt ging, und nachdem sich Judith einen der billigen Plastikgartenstühle herangezogen hatte, setzten wir anderen uns ebenfalls; Ed als Letzter, und auch erst, nachdem er eine angemessene Trotzfrist hatte verstreichen lassen.
Auf dem Tisch standen neben einer kleinen Mikrowelle eine verchromte Warmhaltekanne, Plastikbecher und -löffel sowie ein Paket Würfelzucker und ein Glas mit Milchpulver. Judith griff nach der Thermoskanne, schenkte zwei Becher Kaffee ein und schob die Kanne dann wieder in die Mitte des Tisches zurück. An einem Kaffee nippte sie selbst, ohne Zucker oder Milch genommen zu haben, den anderen schob sie mir hin. Ed warf ihr einen zornerfüllten Blick zu und griff seinerseits nach der Kanne, machte aber nicht einmal eine Bewegung, um sich einzuschenken, sondern hielt sie einfach nur mit beiden Händen fest.
»So, und wie geht es jetzt weiter?«, fragte er herausfordernd. »Ich meine: Abgesehen davon, dass wir in der Steinzeit gestrandet sind und das einzige menschliche Wesen, das es außer uns hier zu geben scheint, ganz offensichtlich das Missinglink zwischen Affe und Mensch darstellt — was tun wir jetzt?«
Maria, die am anderen Ende des Tisches Platz genommen hatte, die beiden überzähligen Stühle zwischen sich und uns, runzelte ärgerlich die Stirn, aber die verstrichene Zeit hatte noch nicht ausgereicht, um ihren Vorrat an Mut wieder weit genug aufzufüllen, um Ed Paroli zu bieten — obwohl man ihr ansah, dass sie nichts lieber als das getan hätte. Als Ed in ihre Richtung sah, senkte sie hastig den Blick und brachte es irgendwie fertig, mit ihrer Umgebung zu verschmelzen wie ein Chamäleon. Wie viele Menschen, die so wie sie waren, beherrschte sie eine Art psychologischer Mimikry, die fast so perfekt war wie Laurins Mantel.
»Ich schlage vor, wir warten einfach ab, bis jemand kommt und uns das alles hier erklärt«, sagte Stefan.
»Irgendwann wird sich dieser Flemming schon zeigen.«
»Flemming?« Ich sah Stefan fragend an. »Da wäre ich aber überrascht.«
Anscheinend verwirrte meine Frage Stefan mindestens ebenso sehr wie mich seine Worte, denn er sah mich mindestens fünf oder auch zehn Sekunden lang eindeutig verdutzt an, aber dann hob er die Schultern und fuhr in eindeutig verärgertem Tonfall fort: »Ich hoffe, es ist eine gute Erklärung. Mir wird das Ganze hier allmählich zu albern.«
»Albern?« Ed ächzte. »Also — als albern würde ich die Ereignisse seit unserem Eintreffen nun wirklich nicht bezeichnen.«
»Aber genau das ist es«, beharrte Stefan. »Ich habe es schon einmal gesagt und ich sage es noch einmal: Das Ganze hier ist inszeniert, und das nicht einmal besonders gut. Ein Stück aus einem Schmierentheater, wenn ihr mich fragt.«
»Das tut mir ausgesprochen Leid«, sagte eine Stimme von der Tür her. »Ich würde mir niemals erlauben, Sie zu erschrecken oder gar zu verärgern. Aber die Dinge sind uns leider etwas … aus dem Ruder gelaufen.«
Alle Gesichter wandten sich der Tür zu. Ich sah aus den Augenwinkeln, wie Judith leicht erschrocken zusammenfuhr, und auch Stefan runzelte auf eine
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