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Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht

Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht

Titel: Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
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auffordernden wie leicht vorwurfsvollen Blick in die Runde. Er kam mir vor wie ein Lehrer, der sich den berüchtigtsten Rabauken der Schule gegenübersieht und verzweifelt darüber nachdenkt, wie er ihnen beibringen soll, dass der geplante Klassenausflug nach Disneyland kurzfristig in eine Wallfahrt nach Lourdes umgewandelt worden ist. Er atmete hörbar ein, bevor er weitersprach:
    »Carl hat oben Zimmer für Sie alle vorbereitet. Wahrscheinlich ist es nicht der Standard, den Sie gewohnt sind, aber sie sind sauber und trocken und einigermaßen warm.
    Und ich denke, für eine Nacht wird es gehen. Warum ziehen wir uns nicht zurück und treffen uns morgen früh ausgeruht und mit klarem Kopf hier wieder?«
    »Hier?«, ächzte Ed.
    »Was ist dagegen zu sagen?« Nicht dass ich diese Umgebung als besonders angenehm oder irgendwie romantisch empfand, aber darüber hinaus kam mir von Thuns Vorschlag höchst vernünftig vor. »Es sei denn, du hättest Angst vor dem Burggespenst.«
    »Gibt es keine Zimmer in der Taube?«, fragte Ed, ohne auf meine Spitze einzugehen. Gottlob! Die plumpe — und vollkommen überflüssige — Provokation tat mir schon längst wieder Leid.
    »Die gibt es«, sagte Maria. »Aber glauben Sie mir, Sie wollen dort nicht schlafen.«
    »Ich finde die Idee ganz in Ordnung«, sagte Ellen. »Ich bin tatsächlich müde, und ich denke, wir sollten alle erst einmal eine Nacht über dem Gehörten schlafen, bevor wir vorschnell entscheiden und vielleicht einen Fehler machen.«
    »Wenn du mich heiratest, Liebling, machst du ganz bestimmt keinen Fehler«, grinste Ed.
    »Nein«, antwortete Ellen liebenswürdig. »Aber ich bin ziemlich sicher, du würdest es bereuen.« Sie stand auf. »Ich hoffe doch, dass wenigstens die Duschen in dieser Ruine noch funktionieren.«
    »Nicht in den einzelnen Zimmern«, gestand von Thun kopfschüttelnd. »Das Internat wurde in den Fünfzigerjahren umgebaut. Es gibt gemeinschaftliche sanitäre Anlagen auf jedem Flur. Aber sie sind funktionsfähig, soweit ich weiß.
     
    Carl kann Ihnen alles zeigen. Er sieht hier dann und wann nach dem Rechten.«
    »Also im Klartext: Das Gemeinschaftsklo ist auf dem Flur«, sagte Ed. Er schob seinen albernen Cowboyhut in den Nacken. »Das kann ja heiter werden.«
    »Halt durch, Liebling.« Ellen spitzte die Lippen zu einem Kussmund. »Wenn du der Auserwählte sein solltest, kannst du dir demnächst dein privates Klo mit vergoldeter Brille kaufen.« Sie wandte sich direkt an von Thun. »Unser Gepäck wird nach oben gebracht?«
    »Das ist bereits geschehen«, antwortete von Thun. Er klang hörbar erleichtert. »Carl wird Ihnen Ihre Zimmer zeigen. Ich schlage vor, dass wir uns morgen früh um neun Uhr wieder hier treffen.«
    »Na super«, sagte Ellen. »Ich habe mir immer schon gewünscht, einmal in einer zugigen Ruine übernachten zu dürfen.«
    »Und?« Ed grinste. »Was ist schlimm daran, wenn du eine 30-Prozent-Chance hast, dass dir diese Ruine bald gehört?«
    Ellen verzichtete vorsichtshalber auf eine Entgegnung und stand auf. Abgesehen von Maria, die unglücklicher aussah denn je, erhoben sich auch alle anderen, selbst von Thun. Er schien darauf zu warten, dass noch irgendjemand etwas sagte, zuckte aber dann nur die Achseln und schlurfte mit hängenden Schultern zur Tür. Niemand war besonders überrascht, als er sie öffnete und wir sahen, dass Zerberus — Carl — davor stand. Er sah leicht ertappt aus. Vermutlich hatte er gelauscht. Ich an seiner Stelle hätte es getan.

 
*
     
    Der Weg nach oben war … sonderbar. Unheimlich wäre vermutlich der treffendere Ausdruck gewesen, aber irgendetwas in mir weigerte sich in diesem Moment beharrlich, das Wort zu benutzen. Draußen in der Halle brannte noch immer kein Licht, aber Carl hatte seine Taschenlampe gegen einen tragbaren Scheinwerfer ausgetauscht, der eine grellweiße Spur in die wattige Dunkelheit der Halle stanzte.
    Die Dunkelheit wäre mir jedoch beinahe lieber gewesen.
    Der grelle Lichtbalken riss erbarmungslos alle Anzeichen des Verfalls aus der Schwärze, der von dem ehemals vermutlich beeindruckenden Gebäude Besitz ergriffen hatte, schien die Dunkelheit dahinter jedoch noch zu betonen. Wir bewegten uns durch einen Tunnel aus greller Helligkeit, der im gleichen Tempo wie wir selbst vor uns herwanderte, aber die Schwärze, in die er hineinstach, war absolut; eine perfekte Leinwand für alle Monster und Schreckensbildnisse, die normalerweise gut verwahrt in den tiefsten Abgründen meines

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