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Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht

Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht

Titel: Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
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Unterbewusstseins schlummern sollten.
    Mein Herz klopfte so heftig, während ich dicht hinter Carl auf die nach oben führende Treppe zuging, dass ich für einen Moment felsenfest davon überzeugt war, dass alle anderen es hören mussten.
    Vielleicht war das sogar so. Aber wenn, dann beachteten sie es vermutlich nicht, weil sie alle Hände voll damit zu tun hatten, ihre eigenen Ängste und Alpträume im Zaum zu halten. Selbst Ed ersparte sich jeden Kommentar.
    Es wurde ein wenig besser, als wir die Treppe hinaufgingen. Carls Scheinwerferstrahl tanzte einen Moment lang ziellos hin und her, glitt über ausgetretene Marmorstufen und ein steinernes Geländer, das nicht unbedingt so aussah, als sollte man sich mit seinem gesamten Körpergewicht darauf lehnen, huschte über eine stuckverzierte Decke und riss für einen ganz kurzen Moment ein Gemälde aus der Finsternis. Ich konnte nicht genau erkennen, was es darstellte; vermutlich ein Porträt, denn ich hatte einen vagen, aber unangenehm tief gehenden Eindruck des Angestarrtwerdens. Der Lichtstrahl wanderte weiter, bevor ich noch Einzelheiten erkennen konnte, aber das machte es nicht besser. Im Gegenteil. Es war wie in einem jener alten Horrorfilme, die ich in meiner Jugend so gerne gesehen hatte: Die Monster waren furchteinflößender, je weniger man wirklich von ihnen sah.
    »Wir müssen noch eine Etage höher«, sagte von Thun, nachdem wir das Ende der breiten Freitreppe erreicht hatten und uns einen hohen, holzvertäfelten Korridor entlangbewegten, an dessen Wänden zahlreiche gerahmte Bilder hingen. »Es tut mir Leid, dass ich Ihnen solche Umstände bereiten muss, aber dort oben haben wir wenigstens Licht.«
    Er keuchte leicht, was ich gut verstehen konnte. Selbst ich spürte die Anstrengung, die es mir bereitet hatte, die mindestens fünfzig ausgetretenen Steinstufen hinaufzugehen, die gerade eine Winzigkeit zu niedrig waren, um sie wirklich bequem zu überwinden. Für einen Mann in von Thuns Alter musste es eine Tortur sein. Ich fragte mich, warum er diese Quälerei überhaupt auf sich nahm, beantwortete meine eigene Frage aber auch praktisch im gleichen Augenblick selbst: Weil sein Zimmer auch dort oben lag — so einfach war das.
    »Habt ihr die Stromrechnung für die unteren Etagen nicht bezahlt?«, witzelte Ed.
    »Ich hab auf die Schnelle nur den Notstromgenerator in Gang gekriegt«, antwortete Carl. »Die Leistung reicht nicht, um das ganze Gebäude zu versorgen. Ich kümmere mich gleich morgen früh darum.«
    »Na, das will ich auch hoffen«, sagte Ed. »Schließlich will ich mein neues Leben als Multimillionär nicht im Rollstuhl beginnen, weil ich mir in dieser Bruchbude den Hals gebrochen habe.«
    »Die Zunge würde ja schon reichen.« Es war nicht genau zu bestimmen, wer diese Worte gesagt hatte, aber sie taten ihre Wirkung. Ed hielt endlich die Klappe, und ich konnte das Grinsen, das sich auf den Gesichtern der anderen ausbreitete, geradezu hören. Zumindest für den Rest des Weges bis ins Dachgeschoss hinauf verschonte uns Ed mit seinen dämlichen Bemerkungen.
    Genau wie Carl versprochen hatte, brannte zumindest im Dachgeschoss Licht — wenn man es so nennen wollte.
    Auch hier gehörte nicht besonders viel Vorstellungskraft dazu, sich auszumalen, wie diese Räumlichkeiten einmal ausgesehen haben mochten; die Korridore waren etwas niedriger als unten, die Holzvertäfelungen an den Wänden etwas weniger erlesen, die Teppiche auf den Böden nicht ganz so kostspielig, und unter der Decke hingen sechs- oder achtarmige Kristalllüster, die dem Ganzen einen endgültigen Hauch von Luxus verliehen hätten — wäre nicht jemand hingegangen und hätte aus jedem zweiten Leuchter sämtliche und aus den übrig gebliebenen alle bis auf eine einzige Glühbirne herausgeschraubt (vermutlich war es Carl gewesen, um Kosten zu sparen), sodass der Weg eher zu einem gespenstischen Spießrutenlauf durch Bereiche von wechselnd intensiver Dunkelheit geriet. Carls Handscheinwerfer, dessen Lichtstrahl noch immer wie betrunken vor uns hm und her schwankte, blieb die mit Abstand ergiebigste Lichtquelle, die dann und wann das Fragment eines Gemäldes aus der Dunkelheit riss, ein Stück eines Türrahmens, einen asymmetrischen Streifen längst verblichener Stofftapeten oder einen Lichtschalter aus Messing; der einfache Weg zwei Treppen hinauf und dann durch einen niedrigen Korridor bis hin zu den Gästezimmern wurde auf diese Weise zu etwas anderem, das ich nicht genau in Worte

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