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Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht

Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht

Titel: Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
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klackend einrastete.
    Was ich im Licht der schwachen Glühbirne sah, die daraufhin unter der Decke aufleuchtete, war in der Tat eine Überraschung; aber ich hätte nicht sagen können, ob sie wirklich unangenehm war. Das Zimmer war tatsächlich kaum breiter als ein sechstüriger Kleiderschrank, aber dafür so lang, dass man einen Lear-Jet darin hätte parken können: ein schmaler Schlauch, der bequem Platz für einen Schrank, ein Bett und einen Schreibtisch samt dazugehörigem Stuhl und Bücherregal bot, die allerdings hintereinander aufgereiht waren, und alle an der gleichen Wand, was den Anblick irgendwie noch bizarrer werden ließ. Um das Maß voll zu machen, war der Raum in den vorderen beiden Dritteln mindestens drei Meter hoch, wenn nicht mehr, während die Decke weiter hinten in eine holzvertäfelte Schräge überging. In der Mitte dieser Schräge befand sich ein schmales, vergittertes Fenster, das wahrscheinlich selbst an einem wolkenlosen Hochsommernachmittag kein nennenswertes Licht hereinließ. Der Anblick war so unwirklich, dass ich einen Momentlang ernsthaft überlegte, kehrtzumachen und mir eines der anderen Zimmer zu sichern, bevor es zu spät war. Aber dann zog ich die Tür mit einer entschlossenen Bewegung hinter mir ins Schloss und machte einen weiteren Schritt in den Raum hinein.
    Vermutlich war es bereits zu spät und mit ziemlicher Sicherheit sahen die anderen Zimmer auch nicht anders aus.
    Was hatte Carl gerade gesagt? Das hier war eine Schule, kein Luxushotel? Wie Recht er doch hatte …
    Immerhin war das Bett frisch bezogen, und die Luft roch nicht annähernd so muffig, wie man es angesichts des unübersehbaren Alters dieses Raumes und seiner Einrichtung hätte erwarten können. Ich betrachtete meine Lagerstatt für diese Nacht einige Sekunden lang missmutig — irgendwie fand ich die Vorstellung wenig erhebend, in einem Bett nächtigen zu müssen, das zum letzten Mal vor zwanzig Jahren benutzt worden war, und das vermutlich von einem pubertierenden Internatszögling, der ganz bestimmt nicht die ganze Nacht brav die Hände auf der Bettdecke gefaltet hatte, aber dann wurde mir klar, wie albern dieser Gedanke war. Ich hatte schon an weitaus schlimmeren Orten geschlafen. Und mit ein bisschen Glück würde es nicht mehr allzu lange dauern und ich konnte mir ein Luxushotel kaufen. Samt der dazugehörigen, garantiert unbenutzten Betten.
    Obwohl ich plötzlich spürte, wie müde ich war, legte ich mich noch nicht hin, sondern begann mit einer kurzen Inspektion des Zimmers. Der Kleiderschrank — wie das Bett, der Schreibtisch und das Bücherregal ein schweres, geschnitztes Möbelstück, an dem die Zeit zwar unübersehbare Spuren hinterlassen hatte, das aber trotzdem die Augen jedes Antiquitätenhändlers zum Leuchten gebracht hätte — war leer, und dasselbe galt für den Schreibtisch, dessen Schubladen ich eine nach der anderen aufzog, aber das Bücherregal war noch zur Hälfte gefüllt. Ein flüchtiger Blick über die verblassten Buchrücken zeigte mir, dass es sich größtenteils um Schulbücher handelte. Die meisten waren mir unbekannt, und eine überraschend große Anzahl der Titel war in Englisch abgefasst, was mir allerdings erst auf den zweiten Blick auffiel; die Jahre, die ich in den USA verbracht hatte, hatten dazu geführt, dass ich vermutlich eher Schwierigkeiten haben würde, Bücher in meiner Muttersprache zu lesen. Ich zog den einen oder anderen Band heraus und blätterte darin, ohne wirklich zu lesen.
    Der vertraute Geruch von altem Papier stieg mir in die Nase und mit ihm flüchtige Bilder und noch flüchtigere Geräusche: eine ganz Horde von Schülern in blauschwarzen Jacken und gleichfarbigen Kniehosen, die alle den Sekundenbruchteil nach dem Schrillen der Glocke nutzten, um aufzuspringen und den Klassenraum zu verlassen (und das selbstverständlich gleichzeitig), krakelige Kreidestriche auf einer verschrammten Schiefertafel, das Lärmen der Schüler unten auf dem Hof, das Knarren von Schritten auf den ausgetretenen Dielen der Treppe, die gedämpften Stimmen der anderen, die durch die dünnen Trennwände aus Sperrholz drangen …
    Ich ließ das Buch mit einem so heftigen Knall in der Hand zuklappen, dass allein das Geräusch ausreichte, dass ich erschrocken zusammenfuhr.
    Jedenfalls redete ich mir ein, dass es das Geräusch gewesen war …
    Mein Herz klopfte. Plötzlich spürte ich, wie kalt es hier drinnen war und wie muffig die Luft trotz allem roch — nein, nicht muffig.

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