Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht
ist im Moment treuhänderisch angelegt und somit blockiert. Das Paar, das zuerst heiratet, die Namensänderung durchführt und eine weitere Bedingung erfüllt, kommt in den Genuss des gesamten Erbes.«
»Eine weitere Bedingung?«, fragte Stefan misstrauisch.
»Lasst mich raten«, sagte Ellen. »Das Geld kommt bei der Geburt des ersten Kindes zur Auszahlung.«
»Drei Jahre nach der Geburt eines geistig und körperlich gesunden Kindes, um genau zu sein«, sagte von Thun. Er wirkte ziemlich unglücklich und das konnte ich ihm auch nicht verdenken.
»Das meinen Sie jetzt nicht ernst«, sagte Judith.
»Ich fürchte doch«, sagte von Thun. »Wie gesagt: Klaus Sänger wollte unter allen Umständen verhindern, dass die Familienlinie endgültig erlischt.«
»Anscheinend wollte er auch, dass die neue Familie Sänger nur aus schwachsinnigen, geilen Böcken besteht«, sagte Maria. »Kein normaler Mensch lässt sich doch auf so einen ungeheuerlichen Vorschlag ein!«
»Ich schon«, sagte Ed.
»Eben«, versetzte Maria trocken.
»Meine Herrschaften, ich bitte Sie!« Von Thun hob besänftigend die Hände und kroch dann erschrocken wieder ein Stück weit in sich hinein, als ihm klar wurde, dass sich die allgemeine Feindseligkeit plötzlich auf ihn zu konzentrieren drohte. Deutlich leiser und wieder mehr an seinen Aktenordner als an uns gewandt fuhr er fort: »Ich habe befürchtet, dass Sie so oder ähnlich reagieren würden, aber bitte bedenken Sie, dass dieser Vorschlag nicht von mir kommt oder von der Kanzlei Flemming.«
»Sondern von Klaus Sänger, das ist uns schon klar«, sagte Stefan. Anscheinend war er als Einziger darum bemüht, die Wogen zu glätten. Ich konnte allerdings auch sehen, wie sich die kleinen Zahnrädchen und Hebel hinter seiner Stirn immer schneller und schneller zu drehen begannen. »Aber Sie müssen auch unsere … Verwirrung verstehen. Wir reden hier immerhin über eine sehr ernste Angelegenheit.«
»Wir reden hier vor allem über sehr viel Geld«, sagte Ed.
Er deutete herausfordernd mit den gespreizten Fingern der rechten Hand auf von Thun. »Ist das jetzt alles oder haben Sie noch mehr Überraschungen auf Lager?«
»Im Großen und Ganzen sind dies die einzigen Bedingungen, die an das Erbe geknüpft sind«, sagte von Thun unglücklich.
»Das reicht ja wohl auch«, sagte Stefan. Er sah enttäuscht aus, aber auch ein bisschen wütend. »Was für ein Schwachsinn! Ich meine: Was passiert eigentlich, wenn diese so genannte Ehe tatsächlich zustande kommt und die beiden Glücklichen einfach keine Kinder kriegen?«
»Das halte ich für unwahrscheinlich«, antwortete von Thun. »Aber ich bitte Sie jetzt alle, nicht vorschnell zu reagieren. Mir ist klar, wie Sie sich im Augenblick fühlen müssen. Glauben Sie mir, auch mir selbst ist alles andere als wohl zumute, vor allem in Anbetracht der Umstände, die uns hier zusammengebracht haben. Wenn ich deshalb einen Vorschlag machen dürfte?«
»Nur zu«, sagte Ed feindselig. »Teilen wir Baseballschläger aus und klären die Sache gleich an Ort und Stelle?
Wer übrig bleibt, kriegt alles?«
»Da wäre ich eher für einen Buchstabierwettbewerb«, sagte Judith freundlich. »Wir geben dir auch eine faire Chance. Keine Worte über drei Buchstaben.«
Diesmal war das, was in Eds Augen aufblitzte, kein Ärger mehr, sondern etwas Schlimmeres. Er antwortete nicht sofort, sondern spannte sich, fast als wolle er tatsächlich aufspringen und sich auf Judith stürzen, und ich ertappte mich tatsächlich einen Sekundenbruchteil lang bei der Überlegung, was ich tun sollte, wenn Ed es tatsächlich wissen wollte. Ich war ziemlich sicher, dass ich diesem Möchtegernrambo gewachsen war, aber ich legte keinen besonderen Wert darauf, es herauszufinden. Jedenfalls jetzt noch nicht.
Ed anscheinend auch nicht, denn er beließ es bei einem drohenden Aufplustern und sank dann wieder in seinen Stuhl zurück. Aber aufgeschoben war ja schließlich nicht aufgehoben, oder?
»Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte«, sagte von Thun. »Es ist spät geworden und wir alle haben eine aufregende Zeit hinter uns.«
»Ach?«, fragte Ed.
»Vielleicht sollten wir uns alle ein wenig Ruhe gönnen.«
Von Thun sah demonstrativ auf die Uhr — überflüssig zu erwähnen, dass es sich um eine altmodische Taschenuhr handelte, die er an einer Kette aus der Westentasche zog, um den Deckel aufzuklappen und einen Blick auf das Zifferblatt zu werfen — und warf dann einen weiteren, ebenso
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