Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht
sah mich um.
Irgendetwas … war anders, aber ich konnte nicht sagen, was.
Vielleicht das Licht der Glühbirne? Irgendwo in dieser Ruine musste es einen Generator geben, der sie mit Strom versorgte; aber bei der Pflege, die Carl dieser Bruchbude angedeihen ließ, hätte es mich auch nicht weiter gewundert, wenn das Notstromaggregat jeden Augenblick den Geist aufgegeben hätte. Ich blickte einen Moment konzentriert in die entsprechende Richtung, kam aber dann zu einem eindeutigen Nein als Antwort. Die Glühbirne spendete ohnehin kaum nennenswertes Licht. Etwas weniger Strom und sie würde Dunkelheit verströmen.
Ich spürte, wie sich die feinen Härchen in meinem Nacken aufrichteten. Der bloße Gedanke, in diesem alten Gemäuer bei völliger Dunkelheit herumzutappen, war beklemmend und ganz und gar nicht komisch. Nicht dass ich Angst vor Fledermäusen, der Dunkelheit oder gar Gespenstern oder irgendeinem anderen Unsinn gehabt hätte, schließlich war ich ein zivilisierter Mitteleuropäer mit guter Schulbildung, der noch dazu in den USA aufgewachsen war und genug populärwissenschaftliche Filme gesehen und entsprechende Bücher gelesen hatte, um die Gründe für diese Ängste zu kennen. Und ich war viel zu vernünftig, um mich ihnen zu ergeben. Viel zu vernünftig.
Eindeutig zu vernünftig. Ganz bestimmt!
Wenn ich vor etwas Angst hatte, dann davor, im Dunkeln die Treppe hinunterzufallen und mir den Hals zu brechen.
Alles andere waren nur völlig irrationale Ängste; die Ängste eines primitiven Wilden, der eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahrnimmt und nicht weiß, ob es sein eigener Schatten ist oder vielleicht der eines großen, struppigen Dinges mit glühenden Augen und messerscharfen Zähnen. Nicht meine Ängste. Ich weiß schließlich, was ich bin!
Die Übung half; zumindest so weit, dass ich nicht zu pfeifen begann, als ich weiterging.
Ich hatte mich getäuscht. Das Licht drang nicht unter einer der Türen hier oben hervor, sondern kam von der Treppe. Irgendwo unten im Haus brannte Licht, und als ich einen Moment stehen blieb und lauschte, glaubte ich auch Stimmen zu vernehmen — oder zumindest ein undeutliches Murren, das Stimmen sein konnten. Erfüllt von einer Mischung aus Verwirrung und einer zwar grundlosen, aber allmählich stärker werdenden unguten Ahnung, ging ich weiter, stieg die Treppe hinab und begann die weitläufige Eingangshalle zu durchqueren, in der mir ein breiter, dunkelgelber Lichtstreifen geradewegs den Weg zur Küche wies. Das Murmeln wurde deutlicher und war nun eindeutig als Stimmen zu identifizieren. Was hatte ich erwartet?
Die Steinfliesen, mit denen die Halle ausgelegt war, waren jetzt eiskalt; vor allem unter meinen nackten Fußsohlen. Ich verfluchte mich dafür, vorhin in meinem Zimmer nicht ein paar Sekunden mehr auf die Suche nach meinen Schuhen aufgewandt zu haben; aber jetzt zurückzugehen, wäre albern gewesen.
Das Stimmengemurmel aus der Küche wurde plötzlich von einem schrillen Lachen unterbrochen. Ed — kein Zweifel. Aus den Augenwinkeln sah ich die Tür zum Innenhof. Irgendetwas an dem Bild war anders; genug, mich zwar nicht anhalten, aber doch etwas langsamer gehen und den Kopf drehen zu lassen. Die Tür stand sperrangelweit offen. Seltsam — ich war fast sicher, dass wir sie vorhin hinter uns geschlossen hatten. Vielleicht war ja Carl noch einmal nach draußen gegangen, um irgendetwas zu holen oder zu erledigen. Vielleicht hatte auch einer der anderen nur Luft geschnappt und vergessen, die Tür wieder hinter sich zu schließen.
Die Gespräche in der Küche verstummten ebenso schlagartig wie Eds meckerndes Lachen, als ich eintrat, und alle Anwesenden — es waren tatsächlich alle — wandten die Köpfe oder drehten sich auf ihren Stühlen herum, um mich anzustarren. Auf eine Art, die mir nicht gefiel.
»Hallo«, sagte ich — nicht unbedingt die intelligenteste Begrüßung, die denkbar gewesen wäre, aber die einzige, die mir im Moment einfiel. »Gibt es … irgendeinen Grund für dieses Mitternachtstreffen?«
»Klar«, griente Ed. »Wir haben auf dich gewartet. Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, dass du noch kommst. Aber jetzt sind wir ja wieder alle vereint, wie es sich für eine große, glückliche Familie gehört.« Sein Grinsen wurde noch breiter. »Willkommen im Club der Träumer.«
Ich schenkte ihm einen schrägen Blick, beschloss, das Einzige zu tun, was mir sinnvoll erschien, und seine Worte kurzerhand zu ignorieren, und steuerte den
Weitere Kostenlose Bücher